Die Schule reinen Schauens
Vietinghoff – der Mystiker und seine Zeitgenossen

 

Naturalismus ?

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William Turner, Schneesturm und Lawine im Aostatal (1836-1837), Art Institute of Chicago Dies ist auch dann möglich, wenn einzelne Farbpartien "abstrakt" wirken (besonders offensichtlich bei Turner), weil die Nähe zum Objekt immer noch gegeben ist. Selbst nach dem künstlerischen Transformationsprozess bleibt die Nachvollziehbarkeit erhalten, obwohl sich die Früchte, Blumen, Gebäude und Gesichter im visionären Erlebnis des Malers zu phantasievollen Farblandschaften aus Lichtspielen und Formrhythmen wandelten – es sind eben keine gemalten "Tatsachenberichte". Diese Wiedererkennbarkeit ist im Falle abstrakter Kunst nicht mehr gegeben: die Farbe ist der Sinnfälligkeit beraubt, die Aussage kann ohne Kommentar nicht mehr vermittelt werden, die ursprüngliche Sprache der Malerei wurde bewusst verlassen.
 

Wahrheitstreue, Mystik und musisches Sensorium

Louis Marcoussis, Grüne Birne und Messer (1941), Christie's, LotFinder: entry 5432915 Ganze und angeschnittene Pflaumen Vietinghoff selbst ist auch Mystiker (zur Begründung siehe das entsprechende Kapitel), obgleich er sich selbst in seiner Bescheidenheit nie so bezeichnete.






Seine Definition visionärer Malerei meint mit Treue zur Natur, die gegebenen Naturphänomene in ihrer tatsächlichen Erscheinung anzunehmen und sie ohne willentliche Verfremdungen künstlerisch zu verarbeiten. Wie andere große Künstler huldigt er damit der Schöpfung und bereitet sie für die Betrachtung anderer visuell auf.

E. v. V. empfindet die eigenmächtigen Veränderungen an der Natur durch die Dadaisten, Kubisten und Surrealisten als eine Art "Abfallen von der Schöpfung". "Naturgetreu" zu sehen und zu gestalten, heißt zwar nicht zu kopieren, aber doch "wahrheitsgetreu" wiederzugeben, d.h. der inneren Wahrheit der Phänomene auf die Spur und damit Ihrer Transzendenz auf den Grund zu kommen.
 

Pablo Picasso, Frau, Yugoslawische Briefmarke (1986) Dies geht nur, wenn man sich gegenüber den Erscheinungen absichtslos öffnet, mit visueller Hingabe und innerer Verbundenheit oder gar anteilnehmender Liebe.

Die Dinge auf den Kopf zu stellen, zu verzerren, zu zergliedern, zu verstümmeln wie es seit dem 20. Jh. in den bildenden Künsten üblich ist, zeugt nach Vietinghoffs Philosophie u.a. von sinnentleerter Beliebigkeit und manchmal auch von Verhöhnung von Natur und Publikum – aus welchen historischen und psychologischen Gründen auch immer, es wird den natürlichen Phänomenen damit stets etwas angetan.

Darunter befinden sich Experimente aus Übermut (z.B. persönlicher Überheblichkeit), Verzweiflungsschreie (z.B. angesichts von Kriegen), bewusste Provokationen (z.B. gegen das Spießertum) oder Produkte modischen Mitläufertums. Jedenfalls entspringt diese Kunstauffassung nicht dem, was Vietinghoff als "Visionäre Malerei" mit transzendentaler Heimat beschreibt.
 

Detail : Halbe Pflaume Diese Malerei bezweckt weder Kopie noch Verbesserung, weder Kritik noch Schmähung der vorgefundenen Erscheinungen, sondern deren kontemplatives Durchdringen und Verstehen. Ein bildender Künstler kann nicht der Erfinder einer schon geschaffenen Welt sein – außer er präsentiert wie H. Bosch gerade seine Vorstellung von Paradies und Hölle, entwirft eine Phantasie- oder Traumwelt à la Piranesi oder bewegt sich in Mythen. Nach Vietinghoffs Auffassung kann sich ein Maler nichts wirklich Sinnvolles, Neues ausdenken, sondern nur als Katalysator wirken, um das, was über das Sichtbare hinausgeht, sichtbar zu machen.
 

Trauben mit roten Blättern "Hinter den Bergen wohnen auch Leute. Sei bescheiden! Du hast noch nichts erfunden und gedacht, was nicht Andere vor dir schon gedacht und erfunden. Und hättest du's, so betrachte es als ein Geschenk von Oben, was du mit Anderen zu teilen hast."

(Robert Schumann, Komponist 1810-1856, Musikalische Haus- und Lebensregeln).
 

Ilja Repin, Hlg Nikolaus rettet drei Unschuldige vom Tod (1888), Russische Museum, Sankt Petersburg Wenn der Künstler eine psychologische oder gesellschaftskritische Auseinandersetzung sucht, sollte er sich einer dafür geeigneteren Gattung bedienen: Literatur, Theater, Rhetorik, Karikatur. Denn Präsentation von Gedanken (absichtsvoll) und sich einlassendes Sehen (absichtslos) konkurrieren:

Reine Malerei beruht auf der Sinneswahrnehmung der Augen und wird durch alles andere, was nicht Sehen ist, eingeschränkt.

Psychologische, anekdotische, politische, ideologische oder pädagogische d.h. kognitive Botschaften lenken von dem ab, was den bildenden Künsten wesensgemäß ist. Die Aufmerksamkeit auf farbliche Erlebnisse als solche, auf das rein Visuell-Visionäre wird gemindert, wenn andere als visuelle Aspekte sich einmischen. Das ist die künstlerische Erkenntnis Egon von Vietinghoffs.
 

J.-A.-D. Ingres, Prinzessin Albert de Broglie (1853), Metropolitan Museum of Art, New York Naturalismus versteht unter Naturtreue die nüchterne Wiedergabe aller beobachtbaren physischen Merkmale des Gesehenen. Da der Naturalist – selbst wenn er ein Maler ist – das Wahrgenommene nicht visionär-transzendent erlebt, kann er sich über das Wesen der Kunst kein Urteil bilden und glaubt ihr durch sein optisches Täuschungsmanöver zu genügen.


Optisches Sehen ist nicht dasselbe wie (visionäres) transzendierendes Schauen. Im einen Fall entsteht ein Kunstwerk, das eine eine tiefe Einsicht vermittelt, im anderen eine oberflächliche Imitation der Natur, vielleicht sogar eine Art optischer Betrug. In beiden Fällen kann der Betrachter zwar ins Staunen kommen, doch bezieht sich dieses Staunen jeweils auf sehr unterschiedliche Phänomene: auf eine verblüffende Virtuosität oder auf eine enthüllte Wahrheit. Sehr oft ist der Laie jedoch nicht in der Lage dies zu unterscheiden und hält beeindruckt ein technisches Kunststück für "visionäre" Kunst.
 

Yves Klein, Blau (1962) "Fehlt dem Betrachter ein musisches Sensorium, so beurteilt er nur die formale Gestaltung der Werke und sieht beim besten Willen keinen Unterschied zwischen den Produkten der Phantasie und jenen der Nachahmung.

Der gebildete oder verbildete Kunstbanause hingegen verbindet sein Unverständnis für künstlerische Dinge mit dem Begriff Kunst schlechthin. Nach dem Motto «Wenn ein Maler oder Bildhauer etwas Unverständliches herstellt, dann muss es Kunst sein.»

Er glaubt Kunst zu erleben, wenn ihm das betrachtete Werk unverständlich bleibt, sei es aus eigener Blindheit für die Produkte der Phantasie und für die transzendenten Aspekte des Lebens oder sei es deshalb, weil das betrachtete Werk selbst überhaupt nichts ausdrückt."


(Egon von Vietinghoff)
 

Johannes Vermeer, Mädchen mit rotem Hut (1668?), National Gallery of Art, Washington D.C. "Da der künstlerische Ausdruck diskursiv (in logischen Begriffen fortschreitend) nicht erfasst und infolgedessen auch nicht nachgewiesen oder erklärt werden kann, stößt die Begeisterung, die er auslöst, bei amusischen Menschen auf ungläubige Blicke oder verständnisloses Kopfschütteln.

Auf dieselbe Skepsis des Physikers, der im Feuer nur ein Verbrennungsphänomen sieht, stößt auch der Parse, dem sich die Flamme als das Sichtbarwerden einer Gottheit offenbart. Und wie der Physiker die Ergriffenheit des Parsen etwa als Wirkung von Einbildung oder gar Autosuggestion zu erklären sucht, neigt auch der amusische Mensch dazu, die ihm unverständliche Ergriffenheit des Kunstbetrachters als Überspanntheit abzutun."


(Egon von Vietinghoff)
 

Francisco de Goya (oder Mitarbeiter), Der Koloss (1818-1825), Prado, Madrid Die Ähnlichkeit der dargestellten mit den realen Dingen gibt keinesfalls ein Kriterium für den künstlerischen Wert eines Werkes ab, denn sie kann auf zwei vollständig verschiedenen Wegen zustande kommen: entweder durch blanke Nachahmung oder durch die Wiedergabe eines "meditativ" erlebten Farbenschauspiels.

Die Unterscheidung zwischen visionärer und optischer Naturähnlichkeit ist für die Wertung des künstlerischen Gehaltes ausschlaggebend, doch ist sie nicht immer leicht zu treffen, denn viele Kunstwerke sind zugleich Produkte visionärer wie nachahmender Wahrnehmung. In der gegenständlichen Malerei sind nur Werke der allergrößten Meister ganz frei von naturalistischen Einschlägen. Ihre aus transzendierender Einsicht und künstlerischer Phantasie geborenen Visionen waren so deutlich und ihre (auch handwerkliche) Fähigkeit sie unmittelbar darzustellen so ausgebildet, dass sie auf die Krücken der Nachahmung verzichten konnten und sich auch von ästhetisierenden Belangen kaum einschränken ließen.
 
     
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