Visionäre Malerei
Naturalismus ?

 

Die Schule reinen Schauens

Die Schule reinen Schauens

Robert Delaunay, ...., ...... Gegen die Romantiker und Neoklassizisten rebellierten schon die Impressionisten. Sie verbannten die literarischen Inhalte aus der Kunst und entdeckten das Visuelle wieder. In der Sprache der Farben erzählten sie von sinnlichen Eindrücken über die Augen und von Stimmungen anstelle anekdotischer, historischer oder mythologischer Geschichten. Aus ihren neuen Farbtheorien entstanden jedoch wiederum Dogmatisierungen, die zu neuen Einschränkungen führten (z.B. war Schwarz als Farbe verpönt). Die nachfolgenden Malergenerationen befreiten sich davon erneut und suchten auf unterschiedlichen Wegen nach dem Ursprung künstlerischen Ausdrucks.
 

Juan Gris, Harlekin mit Gitarre, 1919, Paul Klee, Blick in das Fruchtland, 1932, Städelsches Kunstinstitut, Frankfurt a.M. Maler wie Kandinsky, Malewitsch, Delaunay, Mondrian, Klee und Itten strebten nach "reiner Wirklichkeit", "reiner Energie", "reinen Farben", "reinen Kompositionen" und "reinen Visionen" und formulierten neue Theorien zu Kunst- und Farbgesetzen. Sie plädierten nun dafür, sich vom Gegenstand zu lösen, Farben und Flächen als solche sprechen zu lassen und gingen damit in die Abstraktion.

E. v. Vietinghoff teilt die Kritik am akademischen Naturalismus und an den anderen Strömungen, gegen die sich die nachimpressionistischen Generationen so heftig sträubten. Vereinzelte Übungen in kubistischer Manier – und die auch nur in seinen frühesten Jahren – sind der einzige durch den Zeitgeist bedingte Umweg, den Vietinghoff je ging. Er verwirft den Kubismus sehr bald, ebenso wie Mondrian (1872-1944), Vlaminck (1876-1958), Delaunay (1885-1941) und Massimo Campigli (1895-1971) auch, und ist danach – wie nach einer Kinderkrankheit – immun gegen weitere Stiltrends.
 

rechte Hälfte Trotz gemeinsamer Unzufriedenheit, gleicher Grundbegriffe und verwandter Ziele führt ihn seine Logik zu entgegengesetzten Konsequenzen. Mit seiner Philosophie der visionären Malerei findet er eine andere Antwort auf die Krise in den bildenden Künsten. Er bringt seine authentischen inneren Erlebnisse in seine Methode reinen Schauens ein. Sie bezeichnet das Nachvollziehen der inneren Dynamik der Farben und des Lichts eines vorliegenden Sujets. Das Schauen ist dabei quasi "ungegenständlich" und das Sichtbare wird meditativ von innen heraus erzählt. Die Schule reinen Schauens ist also eine ebenso visuelle wie mentale Schulung zu einer vom Intellekt befreiten, kontemplativen Sehensweise.
 

Piet Mondrian, Orangen, Gemeindemuseum Den Haag Piet Mondrian, Komposition (1919?), National Gallery of Art,  Washington D.C., USA "Ungegenständlich" heißt für Vietinghoff "rein visuell", rein farblich, aufgrund der reinen Sehfunktion der Augen zustande gekommen. Ungegenständlich und rein bedeutet für ihn nicht gereinigt von natürlichen Eigenheiten, also auch nicht symbolisch oder "steril" im Sinne von geometrisch und flächig.

Rein visuell meint rein sinnlich und auf reiner Wahrnehmung basierend. Rein heißt "unverfälscht": weder durch Hinzufügen aufgrund von Wissen, Erfahrungen oder Absichten, noch durch bewusstes Unterdrücken der individuellen Objekteigenschaften oder Reduzierung bis hin zu abstrakten Figuren. Auch nicht verfälscht durch willentliches Verformen oder Verfremden der natürlichen Erscheinungen.
 

Fischkopf (oben rechts) Es geht um Wahr-nehmen in des Wortes ursprünglichster und tiefster Bedeutung: Das was ist anzunehmen, "wahr" so wie es ist, und unvoreingenommen offen zu sein für die eigene Verwandlung, die einem im Kontakt (mit einer Wahr-heit) damit zuteil wird. Das mystische Erlebnis soll den Schauenden durch Einsichten wandeln, nicht der Künstler soll die Phänomene verformen.

Nach Vietinghoff, sollte der Maler nur farbliche Eindrücke empfangen, nicht seine Vorstellungen projizieren; er wird zu einem Medium, er ist kein aktiv Eingreifender. Ein Gemälde entsteht, es wird nicht konstruiert.
 

Geräucherte Sprotten Räumliches Sehen haben wir als Kinder erst einmal lernen müssen. In der Projektion auf dem Augenhintergrund breiten sich die Bilder flächig aus – ebenso auf der Leinwand eines Malers. Die Stofflichkeit der gegenständlichen Welt haben wir erst durch das Zusammenwirken von Auge und Tastsinn kennen gelernt. In der Summierung unendlich vieler kleiner Erfahrungen haben wir ein Wissen über die stoffliche Welt angesammelt, das uns die Orientierung im Alltag ermöglicht.

Solches Wissen dient anderen Aufgaben als künstlerischen. Für die visionäre Malerei ist es gedanklicher Ballast und verstellt die unmittelbare Wahrnehmung. Kunst vermag uns jedoch die Dinge in nichtalltäglicher Schau zu präsentieren, hebt die Objekte aus der Banalität, öffnet einen Blick dahinter ... in Richtung Wahrheit.
 

Zwei Äpfel Koppelt man das Auge vom Tastsinn wieder ab und blendet das gesammelte Wissen aus, so ist das Auge frei, ausschließlich seine ureigene Tätigkeit auszuführen. In der Konzentration auf reines, absichtsloses Schauen öffnet sich der Maler für andere Botschaften als die von ihm bekannten und zur Bewältigung des Alltags benötigten. Alles Gelernte soll "vergessen" werden, damit der Sehvorgang rein und unvoreingenommen stattfinden kann.

Das Objekt wird mit dem Blick fixiert und alle Assoziationen und Vorerfahrungen werden losgelassen. Ein meditativer Vorgang beginnt. Die besten Werke der wahren Genies wie Rembrandt, Rubens, van Dyck, Michelangelo, Velazquez, Tizian, Guardi, Goya oder Turner zeigen, dass diese Meister – bewusst oder unbewusst – genau so gearbeitet haben. Ebenso wie Chardin, der seine Vorgehensweise ganz ähnlich formulierte, wenngleich er es nicht "Meditation" nannte (wie Vietinghoff übrigens auch).
 

rechter Apfel (Detail) Bei streng visueller Betrachtung ist also ein farbiges Objekt auf dunklem Grund nur eine farbige Fläche innerhalb einer dunklen Fläche. So gesehen unterscheidet es sich inhaltlich nicht mehr von den übrigen Teilen des Blickfeldes und ist nur noch Farbträger, d.h. es ist egal, welches Sujet oder welche Partie eines Sujets eine Farbfläche darstellt. Es findet tatsächlich eine Abstraktion statt. Das Objekt ist auf seine Farblichkeit reduziert und existiert nicht mehr als benennbarer Gegenstand.

Wenn man die erlernten Gedanken über ein Objekt radikal loslässt, so verschwinden mit seinen Definitionen auch seine festgelegten Konturen.
Die Welt erscheint nur noch als Zusammenwirken von Farbtönen und -schattierungen in farblichem Kontext d.h. als Farbsymphonie. Sie zeigt dem Betrachter einen anderen als den bekannten Aspekt. Egon v.Vietinghoff möchte in das vielfältige Farbenspiel der Dinge eintauchen, deren Vordergründigkeit im wahrsten Sinne des Wortes durch-schauen und damit zu ihrem wahren Wesen vordringen.
 

linke Blütendolde Ähnlich wie die genannten Malerkollegen seiner Zeit will er nicht die messbaren Eigenschaften des Objekts so "richtig und genau" wie möglich ab-bilden. Die stetig sich verbessernde Photographie kann in dieser Beziehung ohnehin perfektere Resultate liefern. Somit liegt die Bedeutung der Malvorlage ganz in ihrer visuellen Stimulation, d.h. sie wird als rein farbliches Phänomen aufgefasst.


Steht die Vermittlung einer Idee im Vordergrund wird die Möglichkeit reiner Malerei eingeschränkt und ein Gemälde in den Rang einer Illustration versetzt. Die sinnliche Wahrnehmung muss dann nämlich den Wissensinhalten gehorchen, die wie kognitive Vorurteile wirken. Sie ist nicht mehr ganz frei für das rein visuelle Erlebnis eines einmaligen, lebendigen Farbenschauspiels.
 

Zweige des Spierstrauchs I Obgleich Farben an Objekte gebunden sind, ob an reale oder nur vorgestellte, ist die konsequent visuelle Wahrnehmung des reinen Schauens quasi "ungegenständlich", ohne deshalb zu abstrakten Bildern zu führen.

Die dreidimensionalen Objekte werden vom Künstler nur vorübergehend in ein Nebeneinander von Farbflächen übertragen (sozusagen in den Zustand vor dem Erlernen dreidimensionalen Sehens). Der Betrachter vollführt die Rückübertragung in die räumliche Sichtweise ohne jede Schwierigkeit, da der Mensch gewöhnt ist gegen­ständlich zu sehen.
 

Jean-Siméon Chardin, Stillleben mit Silberbecher (1759-60), Getty Center, Los Angeles CA Ein Maler kann lernen, die Objekte nicht mehr als Dinge zu sehen, die isoliert im Raum stehen. Um die Gewohnheiten alltäglichen Sehens zu überwinden, diszipliniert sich Egon von Vietinghoff zu täglichen Übungen, die ihn für die künstlerische Eingebung empfangsbereit machen.

Diese Schulung reinen Schauens ist also eine Vorstufe zu transzendentem Erkennen und somit jeglichem Rauschmittel vorzuziehen. Er erkennt bei intensiven Studien der alten Meister, dass dieses rein visuelle Schauen alle großen Maler leitete und sie zu wahrer Kunst befähigte.
 

Drei Pfirsiche Die Grundhaltung bei der Methode reinen Schauens ist sowohl eine nüchterne als auch eine staunende.

Einerseits wendet sich Vietinghoff den Objekten pragmatisch zu und nimmt die Phänomene so wie sie sind, ohne sie nach eigenem Willen zu verändern. Andererseits lässt er sich "naiv" vom Wunder der Erscheinungen erfassen und seine Kreativität anregen.
 

Rechter Pfirsich Beide Komponenten dieser Grundhaltung erfordern es, sich dem Farben- und Lichtspiel ganz zu öffnen und aufnahmebereit zu sein. In keinem Fall wird beurteilt oder bewertet; das Ego mit seinem Ehrgeiz und seinen Eitelkeiten ist ausgeschaltet.

Einseitige Konzentration auf exakte Wiedergabe oder ungeduldiges Erwarten der Inspiration schränken den Horizont ebenso ein und blockieren sowohl die Aufnahmebereitschaft als auch den Vorgang der künstlerischen Transformation.
 

Bildmitte (unten) Der realistische Aspekt, die absolute Naturtreue, wird oft überbewertet oder fälschlicherweise zum Anlass von beflissener Beobachtung genommen. Diese engt die Wahrnehmung auf genaue Oberflächenbeschreibung ein, verliert sich im Detail und erstickt damit die künstlerische Phantasie im Keime. Die transzendente Erfahrung wird verhindert, die Resultate sind virtuose Bilder von kühlem Realismus.


Besonders hier gilt, dass die Summe der Einzelheiten nicht das Ganze ist. Das Kunstverständnis, das bloß die äußere Form nachahmen will, lässt zwar brillante Werke im Sinne von technischen Kunststücken entstehen – aber dann ist Kunst auf Kunstfertigkeit reduziert.
 

Aufgebrochene Blutorange I Auch beim zweiten, dem Aspekt der Phantasie und Kreativität besteht die Gefahr, dass sich der künstlerische Akt – so wie ihn Vietinghoff versteht – nicht entfalten kann oder gar nicht zustande kommt. Bevor er überhaupt begonnen hat, wird er seit dem 20. Jahrhundert häufig durch eine mehr oder weniger originelle Idee ersetzt. Dann sieht man mit einer bestimmten Vorstellung, die wie eine Zensur im Kopf wirkt, an die Dinge heran und ist blind für ihre Wirklichkeit oder formt sie nach der eigenen Idee um.
 

Bildmitte Vietinghoff erlebte während seiner 10 Pariser Jahre persönlich wie später berühmt gewordene Maler an Stammtischen der Cafés neue Stilrichtungen herbei diskutierten und solche von ihren Managern kommerziell lanciert wurden. Dabei wurde vieles auf intellektuellem statt auf visuellem Wege geboren, entsprang einer Kreativität, die sich nicht aus malerischen Impulsen speiste.

Können denn die existierenden Wunder dieser Welt noch einmal erfunden werden? Steigert sich die Unverwechselbarkeit des künstlerischen Ausdrucks mit dem Grad machtvoller Einwirkung auf die vorgefundenen Formen? Wenn das Verständnis von Kunst diese Fragen bejaht, dann bringt sie Aufmerksamkeit erregende oder zum Nachdenken anregende, aufrüttelnde oder auffallende Werke hervor. Im Einzelfall wäre dann zu prüfen, ob diese eher "künstlich" oder "gekünstelt" als künstlerisch genannt werden müssten.
 

Drei Pflaumen Bildnerische Kreativität und persönliche Sehweise ist für Vietinghoff ein sanft sich entwickelnder oder ein spontan-eruptiver Prozess, jedoch immer ein aufbauender, ein metamorphotischer und kein zergliedernd destruktiver – jedenfalls ein aus natürlicher Anschauung erwachsender und kein vom Intellekt aufgedrückter.

Andere mögen Gefallen daran haben, sich über das Natürliche hinwegzusetzen oder den Formen ihren Willen aufzuzwingen. Unter Verwendung der mehrschichtigen Öl-Harz-Malerei bleibt Vietinghoff lieber bei der Formensprache der Natur und dient gleichzeitig als vermittelndes Medium transzendentaler Einblicke.
 

linke Pflaume Das ist sehr grundsätzlich! Aber was macht Egon v.Vietinghoff nun wirklich? Er vergleicht die Situation mit dem Empfang beim Radio: mit einem Knopf schaltet er auf Empfang, mit einem zweiten richtet er seine Aufmerksamkeit auf einen Sender, auf ein bestimmtes Objekt aus. Er vergleicht den Künstler der visionären Malerei mit dem Bogenschützen im Zen-Buddhismus: beide schalten in ihrer Meditation Willen und Gedanken aus. Der eine wird eins mit dem Ziel und "es schießt", der andere versenkt sich visuell in ein Objekt und wird zum Werkzeug transzendentaler Erfahrung – "es malt".

Dabei hilft ihm die "künstlerische Phantasie", die Egon von Vietinghoff nicht verwechselt mit einer originellen Idee oder einem auf Zufall ausgerichteten Spieldrang! Unter "Phantasie" versteht er die bei einem bildenden Künstler spezifisch visuell funktionierende Intuition, den sechsten Sinn, der ihn durch die materielle Form hindurch schauen lässt und zum transzendenten Erlebnis leitet.
 
     

 

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