Die Schule reinen Schauens
Vietinghoff – der Mystiker und seine Zeitgenossen

 

Naturalismus ?

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Naturalismus versus visionäre (transzendentale) Malerei

Ist Naturalismus und Naturähnlichkeit dasselbe?

Muss gegenständliche Malerei naturalistisch sein?

Ist abstrakte Malerei die einzige Alternative zum Naturalismus?



Linke Spalte: Beispiele visionärer (transzendentaler) und abstrakter Malerei.
Rechte Spalte: Beispiele naturalistischer Darstellungsweise.
 

Caspar David Friedrich, Der Watzmann (1825), Alte Nationalgalerie Berlin Naturalismus ist die formale Übereinstimmung einer bildlichen Darstellung mit deren Vorlage d.h. entweder mit einem realen Gegenstand oder mit einer imaginierten Realität. Zur besseren Abgrenzung und zur allgemeinen Begriffsklärung gebraucht Vietinghoff diesen Begriff recht strikt für kopierende Arbeiten zwecks Nachahmung der Natur (in der heutigen Kunstgeschichte mag der Begriff Naturalismus etwas anders verwendet werden). Solche Werke sind zwar oft technisch gekonnt, ihnen fehlt aber das transzendente Erlebnis – die künstlerische Phantasie ist daran kaum oder gar nicht beteiligt. Deshalb wirken naturalistische Werke glatter, kühler oder "unbeseelt". Für Vietinghoff ist Naturalismus geradezu "Unkunst" und ebenso weit von der von ihm definierten "Visionären Malerei" entfernt wie die abstrakte Malerei. Beide markieren Extreme: das eine ist der Realität hörig, das andere hat sich von ihr völlig entfernt.
 

Jacques-Louis David, Der Tod des Sokrates (1887), Metropolitan Museum of Art, New York Perfekter Naturalismus belegt das eine Ende des Spektrums als phantasieloser Abklatsch der Objekte aufgrund akribischer Beobachtung. Mittels handwerklichem Können bringt er immer wieder technische Meisterstücke hervor. Der Mangel an Transzendenz wird durch beflissene Nachahmung kompensiert. Der physischen Erscheinung wird damit eine geradezu absolute Bedeutung beigemessen, die ihr gar nicht zukommt. Geschaute innere Wahrheit wird dabei mit sichtbarer äußerer Wirklichkeit verwechselt. Statt der Darstellung eines künstlerischen Erlebnisses werden realistisch Details aufgezählt und nebeneinander gesetzt.
 

Pieter Claesz, Stillleben mit Musikinstrumenten (1623), Louvre, Paris Der Naturalist sammelt Kenntnisse über die dargestellten Dinge an und verwertet sie im Bild. Der Tiermaler zeigt zoologische Kenntnisse, der Landschaftsmaler perspektivische, der Bildhauer und Maler von Akten anatomische und der Schlachtenmaler bezeugt sein Unterscheidungsvermögen für Uniformen und Waffen. Für die Anhänger des Naturalismus ist der Zweck jeden Kunstschaffens erfüllt, wenn die Darstellung der Realität entspricht, während seine Gegner jede Naturähnlichkeit verdächtigen, eine Folge von mangelnder Gestaltungskraft zu sein oder aber von der Unfähigkeit, sich von überholten Konventionen zu lösen.
 

Peter Paul Rubens, Der Sturz der Titanen (1637-38?), Königlich belgische Kunstmuseen, Brüssel Ein visionär arbeitender Künstler malt, was das Objekt vor seinem geistigen Auge an Farb- und Lichtspiel auslöst – ein Naturalist malt, was die Optik seines physischen Auges registriert. Der Eine durchdringt die Welt und begreift sie von innen her, während der Blick des Anderen bloß deren Oberfläche erreicht. Naturalismus verhält sich zu visionärer Malerei etwa wie Tatsachenberichte zu Dichtung oder wie anatomische zu philosophischer Menschenbetrachtung. Der Naturalismus ist also keine Stilrichtung, sondern kommt als Darstellungsweise phantasiearmer Künstler aller Zeiten vor.

"Wenn die Phantasie erlahmt, setzt der Naturalismus ein", sagt Vietinghoff. Da der Naturalismus ein Merkmal mangelnder Eingebung ist und diese auch großen Meistern nicht stetig zuteil wird, verflachen selbst ihre Werke manchmal zu naturalistischen Darstellungen.
 

Abstrakte und visionäre (transzendentale) Malerei

Kasimir Malewitsch, Suprematismus (1916); Kunstmuseum Krasnodar Abstrakte Malerei steht dem Naturalismus diametral gegenüber und hat in letzter Konsequenz mit der natürlichen Anschauung nichts mehr zu tun. Doch bietet sie deshalb nicht zwangsläufig die wahre Alternative an, die sie vorgibt zu sein. Sie ist für Vietinghoff schon deshalb ein Unding, weil Farben als solche nichts Allgemeinverständliches aussagen und abstrakte Formen ohnehin in die Gattung dekorativer Kunst d.h. zur Ornamentik gehören (s. Manuskript Das Wesen der bildenden Kunst Kapitel 2).

Bestimmte Farben oder Formen können allenfalls eine symbolische Bedeutung haben, auf die sich die Gesellschaft verständigte (z.B. Rot ~ "Liebe" oder "Stop", Grün ~ "Hoffnung" oder "Gehen / Fahren", Kreis ~ "Vollkommenheit" oder "Fülle" oder "Leere", Lemniskate ∞ ~ "unendlich" oder "verheiratet"). Aber in anderen Kulturen und Zeiten sind die gleichen Zeichen, Abstraktionen, Symbole, Hieroglyphen und Piktogramme nicht so selbstverständlich lesbar oder sie haben in einem anderen Zusammenhang eine unterschiedliche Bedeutung.
 

Theo van Doesburg, Komposition in Schwarz und Weiß (1923), Kunstmuseum Basel Abstrakte Bilder sind vom ästhetischen Empfinden, d.h. vom Geschmack, vom Willen zur Stilisierung und Strukturierung, von inhaltlichen Überlegungen oder sogar vom Zufall abhängige Darstellungen und entbehren somit – ebenso wie naturalistische Arbeiten – eines transzendenten Erlebnisses im Sinne der "visionären Malerei" Vietinghoffs. Naturalismus und Abstraktion bilden ein logisches Gegensatzpaar, agieren jedoch beide auf einer anderen Ebene als die visionär-transzendentale Malerei.

In seinem Manuskript Das Wesen der bildenden Kunst zeigt Vietinghoff auf, warum Farben nicht wie Töne in einer Tonleiter in eine systematische Ordnung mit absolut eindeutiger Platzierung und Reproduzierbarkeit zu bringen sind, und auch weshalb die Farbenlehren, die solche Querverbindungen herstellen, zwar interessante, aber nur unbefriedigende Theorien beinhalten.

Farben können als solche keine allgemein verständliche Sprache darstellen und bedürfen immer einer gegenständlichen Form, um eindeutig nachvollziehbar zu bleiben.
 

Wassily Kandinsky, Das jüngste Gericht - Komposition V (1911), Privatbesitz Vietinghoff sieht in abstrakten Werken zu viel Konstruiertes oder vom Zeitgeist Bedingtes. Ihm fehlt die mystisch-geistige Durchdringung des sinnlich Wahrnehmbaren während des künstlerischen Transformationsaktes, der für ihn ein transzendentales Erlebnis sein muss, um eigentliche Kunst hervorzubringen. Lange nicht alle, die den Weg der Abstraktion gingen, erschienen ihm unter diesem Aspekt glaubwürdig. In vielen Formen der modernen Kunst des 20. Jhs. sieht Vietinghoff eher rebellische Protestaktionen, launische Experimente, unbedarftes Suchen nach neuen Ausdrucksformen, publizitätssüchtige Selbstdarstellungen oder glatte Publikumsverhöhnung.
 

Piet Mondrian, Düne (1910), Gemeentemuseum Den Haag Naturalismus ist zwar gegenständlich, aber nicht jedes gegenständliche Werk ist naturalistisch. Ebenso ist ein abstraktes Bild nicht deshalb schon ein inspiriertes Kunstwerk, nur weil es zum kopierenden Naturalismus so radikal auf Distanz geht.

Auf ersten Blick haben sich abstrakte Bilder vom "Feind Naturalismus" weiter entfernt als gegenständlich-visionäre. In bestimmten Phasen einzelner Maler (z.B. den Dünen- und Baumstudien Mondrians) wird das gemeinsame Bestreben Vietinghoffs und seiner Zeitgenossen nach Auflösung der Dinge in reine Farbenpartien erkennbar.
 

Piet Mondrian, Raute mit grauen Linien (1918), Gemeindemuseum Den Haag, NL Piet Mondrian, Apfelbaum (1908-1909), Dallas Museum of Art, USA Während jedoch die Bilder der meisten anderen immer flächiger, kühler und oft auch graphischer werden (besonders nachvollziehbar bei Mondrian), .....


(auch die Trompe l'oeuil-Effekte des Fotorealismus wirken kühl und wenig natürlich, trotz raffiniertester Maltechnik, suggerierter Perspektiven und perfektionistischer Details – oder gerade deshalb)
 

Rote Zwiebeln und weisse Kanne Zwiebeln ..... erscheinen seine eigenen Werke zunehmend sinnlicher, wärmer und plastischer.


(s. auch Kapitel "Vergleiche")
 

Gegenständlichkeit, Naturähnlichkeit und visionäre Malerei

Rembrandt, Selbstbildnis (1630), Nationalmuseum Stockholm Dass einerseits Gegenständlichkeit in den bildenden Künsten nicht automatisch zu Naturalismus führt, zeigen zahllose Beispiele von Bosch und Rembrandt über Goya und Corot bis Gauguin und Kokoschka. Dass sich andererseits im visionär-meditativen Malprozess die Farben allmählich vom Objekt lösen, hat besonders eindringlich Turner bewiesen.

Um gegenständlich-naturähnliche bzw. gegenständlich-visionäre Werke von gegenständlich-naturalistischen trennen zu können, unterscheidet Vietinghoff zwischen optischer und visionärer (transzendenter) Wahrnehmung und folglich auch zwischen optischer und visionärer (transzendentaler) Naturähnlichkeit. "Naturähnlich" heißt demnach zwar gegenstandsgebunden, d.h. am Gegenstand orientiert, nicht aber "naturidentisch" kopiert. Bei visionärer Auffassung wirkt das gemalte Objekt natürlich, lebendig und nicht bloß formal korrekt abgebildet. Der visionär vorgehende Künstler sieht "hinter" die Dinge oder "durch sie hindurch", er haftet nicht an deren Beschreibbarkeit und löst sich vom rein Formalen.
 

Cornelis Gysbrechts, Trompe-L'oeuil mit Briefen (2. Hälfte 17. Jh.), Kunstmuseum Ghent Allerdings garantiert nicht jede Art der Loslösung vom real vorliegenden Objekt, so wie sie in der abstrakten Malerei praktiziert wird, automatisch ein Kunstwerk. Die Alternative "entweder gegenständlich oder abstrakt" ist eine irreführende Polarisierung und geht am Wesen der bildenden Künste vorbei. Die visionäre Malerei bietet einen anderen Weg an, der auf die Verbindung der materiellen und der transzendenten Seite unserer Welt hinweist.

Die optische Naturähnlichkeit hält sich ausschließlich an das real Sichtbare und bildet die Objekte in ihrer äußeren Erscheinung ab. Sie ist dann erfüllt, wenn der Maler eine möglichst täuschend ähnliche – allerdings zweidimensionale – Kopie erreicht. Für Vietinghoff ist dies Kunst im Sinne von Kunstfertigkeit und von künstlich: ein Taschenspieler-Trick zur Verblüffung des Publikums (Trompe-L'oeuil-Effekt). Es ist Naturersatz wie das Vortäuschen durch ein künstliches Aroma, das dem Originalduft irritierend ähnlich ist. Solche Bildwerke mögen dekorativen Charakter für leere Wände haben, doch – ebenso wie denaturierte Speisen – ernähren sie den nach einem tieferen Kunsterlebnis hungrigen Geist nicht.
 

El Greco, Die Vision des heiligen Johannes (1608-1614), Metropolitain Museum, New York Die visionäre (transzendentale) Naturähnlichkeit hält sich nicht sklavisch an die messbaren Eigenschaften der Erscheinungen. Denn sie basiert ja gar nicht auf der Beobachtung der Realität und beabsichtigt gar keine Imitation. Ihr Ziel ist die Vermittlung eines irrationalen, eines mystischen Erlebnisses. "Naturtreu" muss also nicht heißen, die sichtbaren Oberflächen präzise abzumalen, was neben einer technischen Leistung eine reine Fleißarbeit ist.

Getreu der Natur zu malen heißt im Sinne Vietinghoffs, sich zuerst einmal an das zu halten, was die Natur vorgibt, d.h. im Gegenständlichen zu bleiben. Die Darstellung kann dann mehr oder weniger nahe am Objekt ausfallen, je nach Maltechnik (vgl. z.B. Giotto, Chardin, Sisley, van Gogh) und Art der künstlerischen Vision (vgl. z.B. Grünewald, El Greco, Rubens, Turner).
 

Jean-Baptiste Oudry, Chevalier de Beringhen (1722), National Gallery of Art, Washington D.C. Da der Naturalismus den Stil naturähnlich gestaltender Kunstepochen, die ihm vorausgingen, beibehält, besteht äußerlich kein Unterschied zwischen naturalistischen und naturähnlich-visionären Werken. Wenn dann auch noch zwei Zeitgenossen die gleichen Sujets verwenden, können die meisten Betrachter virtuose von visionären Werken nicht mehr auseinanderhalten (vgl. z.B. Guardi und Canaletto oder Chardin und Oudry oder Tizian und Ingres). (siehe auch Kapitel "Führungen / Vergleiche zur Visionären Malerei").

In der visionären Malerei nach Vietinghoff werden die Phänomene vor dem inneren Auge in farbliche Teilflächen aufgelöst, der Gegenstand als solcher und als ganzer verschwindet; sodann erfasst die künstlerische Phantasie das entstandene Schauspiel der Farben und Formen. Gemalt wird das Ergebnis dieser künstlerischen Transformation und nicht das tatsächliche Objekt selbst. Da Farbe an Form gebunden ist (außer bei Spektralfarben) und die Kombination von Form und Farbe eine allgemein verständliche Sprache darstellt, setzt der Betrachter die Farben zu der gemeinten Form mühelos wieder zusammen und kann die Bedeutung der Farbabstufungen und des Lichtspiels nachvollziehen.
 
     
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