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Paris

Paris (1923 - 1933)

Café du Dôme, Paris (1925) Es zieht ihn nach Paris. Im September 1923 kommt er im Mekka der bildenden Künste an. Im Quartier de Montparnasse kauft er mit Hilfe seiner Eltern ein Wohnatelier und baut es nach seinen Wünschen um. Paris ist damals konkurrenzloses Zentrum und Treffpunkt der Avantgarde. In den Cafés (besonders im Café du Dôme) führt Egon von Vietinghoff mit Malern und Bildhauern, die schon berühmt waren oder es noch werden sollten, leidenschaftliche Diskussionen über die damaligen Kunstströmungen und das Wesen der Kunst: mit Braque, Gris, Picasso, Utrillo, Delaunay, Chagall, Derain, Pascin, Ernst, de Pisis, de Chirico, Campigli, van Dongen, Masereel, Kisling, Ray, Foujita, Calder, Brancusi und Stahly. Auch die Schweizer Le Corbusier, Varlin, Bänninger und die Brüder Giacometti sind nebst anderen in diesen Jahren in der Stadt.
 

Egon von Vietinghoff Ukrainerin mit kurzer Kette Seine frühesten Bilder sind noch etwas vom Geist jener Zeit beeinflusst. Doch weder die Vielfalt der damals wetteifernden intellektuellen Konstrukte noch die Ergebnisse seiner eigenen gelegentlichen kubistischen Versuche vermögen ihn zu überzeugen. Er verwirft sie, keine dieser Arbeiten bleibt erhalten; teilweise sind sie auch durch die Folgen des Zweiten Weltkriegs vernichtet oder verschollen.
 

Peter Paul Rubens, Die Erziehung der Maria von Medici (1622-25), Louvre Jean-Baptiste Siméon Chardin, Der Silberbecher (1760-68), Louvre Museum, Paris So wendet er sich von der illustren Künstlerszene ab und zieht es vor, im Louvre die Originale seiner Vorbilder zu studieren. Seinen Weg hat Vietinghoff zu dieser Zeit ganz klar erkannt: die traditionelle Malerei im Geiste der großen Alten Meister jedoch in eigener Manier.

Dazu braucht er deren Maltechnik, die seit dem Impressionismus, also schon seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vernachlässigt bzw. abgelehnt wurde. Dafür findet er jedoch keine Lehrer, die Kunstavantgarde legt keinen Wert darauf, er beginnt bei Null als Autodidakt.
 

Raffael, Baldassare Castiglione (1514/15), Musée du Louvre, Paris  Farb- und Bindemittel-Experimente Ihn führen und begleiten die Werke der alten Meister selbst. Im Louvre verbringt er über Monate und Jahre hin ganze Tage vor einzelnen Gemälden eines Velásquez, Goya, Hals, Rubens, Chardin, Raffael und Rembrandt. Er pendelt zwischen Museum und Atelier, er probiert Lasuren und Pinselführung aus, die er bei seinen Vorbildern entdeckt.

Dazu experimentiert er systematisch mit Farben, Bindemitteln, Grundierungen und Firnis, deren Zusammensetzungen er sich selbst immer wieder neu mischt. Doch braucht er noch 35 lange Jahre des Erpobens, der Experimente, der Neuentdeckungen, aber auch der Rückschläge bis er Mixturen und Handwerk so beherrscht wie es ihm vorschwebt. Erst in der Mitte seines Lebens wird er die Technik rekonstruiert und seinen Stil gefunden haben.
 

Sitzender weiblicher Akt mit aufgestützem Arm Sitzender weiblicher Akt von vorne mit gesenktem Blick "Sehr förderlich war meiner Zeichenkunst (...), dass ich viele Jahre fast täglich Akte zeichnend in den Pariser Akademien verbrachte, ohne mir durch wohlgemeinte Belehrungen dreinreden zu lassen.
Die in kurzen Abständen wechselnden Stellungen zwangen mich, Formen und Grössenverhältnisse mit einem Blick zu erfassen – eine Übung, die mir später sehr zustatten kam, um das Wesentliche einer Bewegung augenblicklich festzuhalten und mit einigen Strichen wiederzugeben, statt das Papier durch wiederholte Korrekturen zu verschmieren. Auch beim Porträtieren nahm ich mir vor, keinen Strich aufzusetzen, bevor ich nicht überzeugt war, es sei der richtige. Diese stetig erneuerte Kontrolle schloss unbestimmtes Herumprobieren aus und gewöhnte mich an eine disziplinierte Arbeitsweise, die ich auch bei der Farbgebung anwandte.
" (Egon von Vietinghoff)
 

Marcella mit Spitzentuch (Erste Ehefrau) Ein großer Schock und eine der schmerzlichsten Erfahrungen sind für ihn der Tod seiner überaus verehrten Mutter als er erst 23 Jahre alt ist. Ihr, dieser so außergewöhnlichen Frau, war er besonders nahe. Auch für viele andere war sie ein Idol. Die seelisch-geistige Stütze seines bisherigen Lebens fällt weg, jetzt hat er "nur noch" die Kunst.

1929 heiratet Vietinghoff in Rom seine erste Frau, die Italienerin Marcella Chiaraviglio aus einflussreicher römischer Familie in liberal-großbürgerlicher Tradition (Enkelin von Giovanni Giolitti, dem fünfmaligen italienischen Ministerpräsidenten und mehrfachen Minister), einer Familie, die auch zu den ersten Mäzenen von Maria Montessori gehörte.

Die Geburt der nach seiner Mutter genannten Tochter Jeanne macht ihn 1931 erstmals zum begeisterten Vater und gibt einer leidenschaftlichen, aber schwierigen Ehe neue Hoffnung.
 

Grüne Peperoni auf Zeitung Dieser Impuls spiegelt sich in seinen Werken wieder: es entstehen die ersten Bilder, mit denen er selber (vorläufig) zufrieden ist. Mit seiner malerischen Gestaltung menschlicher Haut erweckt er Aufmerksamkeit und gilt als eine Art Geheimtipp für Porträts.

Seine Fortschritte erlauben ihm, in den Jahren 1928-1933 insgesamt fünf Mal Gemälde zu Sammelausstellungen im Salon d'Automne und im Salon des Tuileries zu geben, zusammen mit heute sehr bekannten Malern. Die Dominanz der Abstrakten auf dem Kunstmarkt und der Zweite Weltkrieg verhindern jedoch die Fortsetzung dieser erfolgreichen Anfänge in der Öffentlichkeit; auch die Zäsur seiner Jahre in Südamerika ist dem nicht förderlich.
 

Fischchen in Glasschale Bei Gelegenheitsarbeiten, aufwändigen Wandmalereien und Fotomontagen als Werbeaufträge großer Firmen, wird seine Gutmütigkeit ausgenützt: teilweise wird er für Monate lange Arbeit nicht bezahlt (z.B. Air France). Er reist mehrmals nach Italien, vor allem nach Rom in die Museen sowie zu Besuchen der Familie seiner Frau und nimmt dort am gesellschaftlichen Leben Teil. In Paris gibt er selbst rauschende, sehr feuchte Atelierfeste für Freunde und andere Maler aus den verschiedensten Ländern. Die Jahre in Frankreich verbindet er mit Sommeraufenthalten in Saint-Tropez, Monte Carlo (einschließlich Besuchen im Spielcasino) und im nahegelegenen Sommerhaus seiner Mutter an der Côte d’Azur in Roquebrune-Cap-Martin (dep. Alpes maritimes, zwischen Monaco und Italien).
 

Paris, Metro-Station Palais Royal - Musée du Louvre Seine Frau Marcella versucht sich als Fotografin und entwirft Hüte, wobei ihr Egon hilft, invesiert jedoch mehr in Ausrüstung und Materialien als dass sie Profit macht. Außerdem verschlechtert sich die Situation der Künstler in Paris nach der Welle vor allem jüdischer Immigranten aus dem faschistischen Nazi-Deutschland rasant. Die vorhandenen Gelegenheitsarbeiten, auf die er wie viel andere angewiesen ist, werden unter sehr viel mehr Menschen verteilt, und so verliert auch Vietinghoff seine zum Überleben notwendigen Nebenverdienste. Das Zusammenleben zweier so autonomer und sehr emotionaler Persönlichkeiten im gemeinsamen Wohnatelier gestaltet sich dadurch noch schwieriger. 1933 sind sie erst 30 und 26 Jahre alt, neugierig auf das Leben und suchen einen Neubeginn im Wegzug aus dem so vertrauten Paris. Knapp zehn entscheidende Jahre hat Vietinghoff hier gelebt und er wird zu Besuchen regelmäßig wieder kommen wegen der Atmosphäre, seiner Erinnerungen und besonders wegen des Louvres.
 
     

 

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