Conrad von Vietinghoff, der Vater
9 - Der Fangschuss
Den Kurzroman Le Coup de Grâce (Der Gnadenschuss) schrieb Marguerite Yourcenar 1938. Er wurde 1939 veröffentlich und erschien 1968 auch in deutscher Sprache unter dem Titel Der Fangschuss. Er spielt im Baltikum kurz nach dem Ersten Weltkrieg, im Russischen Bürgerkrieg (1918-1920) zwischen den deutschen Freikorps und den Rotgardisten.
Die aristokratische Kulisse, der Bürgerkrieg bald nach der Oktober-Revolution, die unglückliche Liebe einer Frau zu einem bi- oder homosexuellen Mann und die vagen Vorstellungen M. Yourcenars über Conrad v.V. und seine Familie geben den Rohstoff ab, aus dem die Schriftstellerin ihre eigenen Gestalten formt. Auf diese Weise setzt sie sich mit ihren eigenen Zwiespälten, ihren eigenen Überlegungen und ihrer eigenen Geschichte auseinander und gestaltet sie. Um sich auf diese kreative Weise ihrer selbst bewusst zu werden, braucht sie sich nicht an die tatsächlichen Personen zu halten. Das hat oft nicht mehr so viel mit den realen Menschen zu tun und insofern wäre es vielleicht besser gewesen, die Romanfigur "Konrad" gleich mit einem anderen Namen zu versehen. |
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Was Volker Schlöndorff in seiner Verfilmung Der Fangschuss (1976) daraus gemacht hat, ist ein anderes Kapitel und steht hier nicht zur Diskussion. Es sei jedoch erwähnt, dass Marguerite Yourcenar in einem Brief an Volker Schlöndorff ihre Unzufriedenheit mit dem Film äußerte und die Auffassung der einzelnen Charaktere kritisierte. Darsteller waren Margarethe von Trotta, Mathias Habich, Rüdiger Kirschstein, Valeska Gert und Mathieu Carrière. Für die beste Regie und beste Kamera bekam der Streifen den höchst dotierten Kulturpreis in Deutschland verliehen, das "Filmband in Gold".
Die sicher nicht zufällige Namensgleichheit von "Konrad" und "Conrad" scheint eine Porträtähnlichkeit nahezulegen, der Name "von Reval" suggeriert zwar historische und geographische Glaubwürdigkeit gleichzeitig aber auch eine gewisse Distanz zur Realität, denn dieser Name existiert nicht im deutschen Adel. An einigen wenigen Stellen blitzt der wahre Conrad auf, der Vater des Malers Egon von Vietinghoff, während bei anderen Charakterzügen und Verhaltensweisen der Romanfigur entweder andere Menschen Pate gestanden haben müssen oder eigenes Erleben sich mit künstlerischer Freiheit mischte. Auch hat Sophie nichts mit Jeanne de Vietinghoff jedoch viel mit Marguerite Yourcenar selbst zu tun, und Erich steht für einen ihrer Geliebten. Sie transponiert das Geschehen in Conrads Heimat und nennt die dritte Figur "Konrad". Es ist bekannt, dass M.Y. im Fangschuss, mit seinem brutalen Ende, ein unglückliches Verliebtsein in einen homosexuellen Mann "verarbeitet". |
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Der Erzähler, der preußische Offizier Erich, quartiert sich mit seinen Männern in einem bereits von den Angriffen gezeichneten Schloss seines Jugendfreundes Konrad ein. Dessen Schwester Sophie verliebt sich in ihn, kann aber außer brüderlicher Freundschaft nichts erwarten, denn Erich hegt Gefühle für Konrad. Alle drei sind adlig und leben in einer von außen bedrohten Schicksalsgemeinschaft einer Gesellschaft, deren traditionsreiche Strukturen sich auflösen. Sophie versucht, sich mit oberflächlichen Affären abzulenken und Erich eifersüchtig zu machen. In dieser – auch psychologisch – ausweglosen Situation mit verwirrender Endstimmung, überdrüssig der Umstände, der ständigen Zurückweisungen und schließlich auch der Demütigungen durch Erich, verlässt sie das Schloss. Sie schließt sich einem Studenten an und wechselt die Front zu den Bolschewisten. Später wird ihr Häuflein von der Truppe Erichs umzingelt und gefangen genommen. Konrad ist bei einer früheren Aktion gefallen. Die Kämpfe haben ein Stadium erreicht, in dem keine Gefangenen mehr gemacht werden. Selbst für Sophie gibt es keine Ausnahme und ihr letzter Wunsch, den "Gnadenschuss" von Erich persönlich zu empfangen, wird ihr erfüllt.
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Da zwischen Erich und Sophie keine erotische Beziehung zustande kommt, zudem Erichs Zuneigung zu Konrad nur sehr dezent angedeutet ist und es unklar bleibt, ob Konrad Erichs Gefühle teilt, wird der Begriff "Dreiecksverhältnis" hier strapaziert. Die Verbundenheit beider Männer hat genau diese idealistische Komponente wie sie der Welt Conrad v.Vietinghoffs entsprach und es ist als ob die Scheu der Autorin sie davon abhielt, diese feinen und diskreten Gefühle analytisch zu zerlegen und eindeutig auszusprechen. Die knappen Hinweise darauf, die man beinahe überliest, treten hinter dem Thema der unerfüllten Liebe Sophies weit zurück, dem Hauptthema aus weiblicher Sicht, das mit sehr viel deutlicheren Worten als im Alexis hier den meisten Raum einnimmt. Insofern könnte man hier eine Parallele zur Ehe Jeannes sehen und ist dieser Roman eine logische "Ergänzung" des Alexis.
Die Verwandtschaft der Romanfiguren zu den historischen Vietinghoffs entsteht allerdings nicht auf der biografischen Ebene, sondern im schwebenden Gleichgewicht zwischen subtil Reflektiertem und Unausgesprochenem sowie in der abstrakten Essenz menschlicher Tragik. |
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Yourcenars beliebte Strategie der Verwirrung hat Methode, wenn sie im Nachwort zum Roman behauptet: Das Buch geht von einer verbürgten Begebenheit aus, und die drei Gestalten, ..., sind im wesentlichen die gleichen, wie sie mir ein sehr guter Freund der Hauptperson beschrieben hat. Sie suggeriert den Wahrheitsgehalt dieses Satzes und des ganzen Romans dadurch, dass er neben differenzierten Analysen und nüchternen Kommentaren steht, die psychologisch klug, beinahe wissenschaftlich sind. Weiter sagt sie: Dieser Mann und diese Frau, die ich nur aus einer kurzen Zusammenfassung ihrer Geschichte kannte, ... Mit dem sehr guten Freund könnte sogar ihr eigener Vater gemeint sein, mit dem sie besonders vertraut war und der ihr von Conrad und Jeanne erzählte – jedoch: wie viel?
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10 - Liebesläufe
Beide Eltern des Malers, Conrad und Jeanne, sowie er selbst und sein Bruder kommen in diesem Werk vor, mit variierten Namen außer für Jeanne. Es ist jedoch eindringlich davon abzuraten, den Reichtum nachprüfbarer Details und die plausible Lebensnähe der Personen dahingehend zu missverstehen, dieses Buch als echte Autobiographie anzusehen statt als Literatur. Es enthält so viel Realität wie sie als Kulisse braucht, um Antworten auf die Fragen zu entwerfen, die sie seit dem Tode ihrer Mutter, d.h. seit ihrer Geburt, wie Variationen ihres existentiellen Leitmotivs begleiten. Oder die sie wie Plagegeister immer wieder heimsuchen? Yourcenar schrieb keinen Bericht, sondern einen biographisch gefärbten Roman.
Wie alle Bücher von M.Y. ist auch dieser ein lehrreicher und spannender Roman, der letzte und unvollendete Band ihrer Trilogie Das Labyrinth der Welt. Er ist mit realistischen und historisch belegbaren Episoden gespickt, voller Weisheiten einer Grande Dame, in prägnanter Sprache mit raffinierten Formulierungen. Sein Attribut autobiographisch trifft allerdings nur dort zu, wo es um ihre eigene Familie geht. Auch die Erinnerungen aus ihrer frühen Kindheit wirken authentisch, wenngleich sie verständliche Gedächtnislücken so ergänzt, dass die erzählte Geschichte sinnvoll weiterläuft. Sie hält sich nicht sklavisch an Daten, sei es aus Mangel an Erinnerung oder aus schriftstellerischer Absicht. Nicht von ungefähr gab Josyane Savigneau ihrer Yourcenar-Biographie den treffenden Untertitel Die Erfindung eines Lebens. Man kann sämtliche Werke Yourcenars als Romane qualifizieren, es dabei bewenden lassen und alles ist gut. Wenn jedoch ein Werk wie Liebesläufe als Chronik bezeichnet wird und einen autobiographischen Charakter hat, dann wird der Blick innerhalb des Romanhaften zwangsläufig auch auf reale Geschehnisse gelenkt. Was die Vietinghoffs betrifft, ist dieses Buch sehr viel mehr von der Fantasie gesteuert als es sowohl der normale Leser als auch die Biographen annehmen. |
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In einem Brief vom 6. Juli 1986 an Egon von Vietinghoff erwähnt die Schriftstellerin ihre Arbeit an diesem Werk. Das Wort Autobiographie ist in Gänsefüßchen gesetzt. Ich habe nun wieder die Arbeit an meiner sogenannten "Autobiographie" begonnen, wo ich eigentlich fast gar nicht erscheine. Ich hatte die Absicht, wie ich es Ihnen schon gesagt habe, darin das Porträt Ihrer Mutter darzustellen, aber ich habe erkannt, dass ich nicht genügend Einzelheiten aus ihrem Leben wusste. Also taucht mein Werk Quoi? L'Eternité in eine Phantasiewelt mit einem festen aber verborgenen Grund meines eigenen Lebens. Ich bin selber darüber enttäuscht und verwirrt, aber Sie wissen ja allzu gut, dass ein Künstler nicht tut, was er will, um Sie sehr zu überraschen.
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(S.242f) In Liebesläufe bekennt M. Yourcenar ausdrücklich: Doch dies alles konnte ebenso gut nicht sein. … Ich habe lange geglaubt, dass … Ich täuschte mich; …. Dieser beträchtliche Zeitunterschied beweist, wie sehr unser Gedächtnis die Fakten fern- oder naherückt, sie in anderen Fällen anreichert oder reduziert, und sie umformt, um sie lebendig zu halten
Das Gedächtnis ist keine Sammlung von Dokumenten, die wohlgeordnet in den Tiefen irgendeines Ichs abgelegt sind; es lebt und verändert sich; es reibt Stücke dürren Holzes aneinander, um sie wieder zu entflammen. In einem Buch, das aus Erinnerungen besteht, musste diese Binsenwahrheit irgendwann gesagt werden. Dies ist hiermit geschehen. Und schon früher reflektiert sie: Die Erinnerung weiß immer zu viel oder zu wenig. (S.135) M.Y. selbst gesteht: (S.65) Ich versuche Jeannes Leben … zu rekonstruieren, indem ich die wenigen Erinnerungen aus diesen Jahren, die mir überliefert wurden, untereinander verknüpfe. Meine wichtigste Quelle ist Michel [ihr Vater] selber, …. indessen dürften ihm viele kleine Fakten, die sie betrafen und von denen Fernande [ihre Mutter] wusste, unbekannt gewesen sein. … Schließlich stammen einige Fakten auch direkt von Jeanne, zu einer Zeit, da ich zum einzigen Mal Gelegenheit hatte, als Erwachsene mit ihr zusammenzukommen, vorausgesetzt, dass man mit zwanzig erwachsen ist. |
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Ich werde bei der Niederschrift dieser Chronik vermutlich, wie schon bei früheren … Gelegenheiten nicht umhinkönnen, eine leere Stelle auszufüllen oder einen Wesenszug zu verdeutlichen, indem ich Anleihen bei anderen Personen mache, die mit Jeanne eine gewisse Ähnlichkeit haben … oder deren Lebensumstände einigermaßen analog sind und so einen authentischen Hintergrund zu liefern. Gewiss, dieses Vorgehen ist nur statthaft, wenn man aus der Unzahl von Menschen solche mit derselben Blutgruppe oder dem gleichen Seelenformat auswählt. … Es gilt, fehlende Mosaiksteinchen zu ersetzen oder die Scherben zerbrochenen Glases aneinanderzufügen.
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Conrad von Vietinghoff war nicht – wie die Autorin suggeriert – im Zeichen des unternehmungslustigen bis draufgängerischen Widder geboren, sondern nach gregorianischem Kalender am 29.12.1870 unter dem Zeichen des kontrollierten und gehemmten Steinbocks. Falls er nach 03 Uhr 10 geboren wurde, befindet sich wenigstens der Mond im Widder – sollte M.Y. das wirklich berechnet haben? Selbst wenn, so ist die Qualität des Steinbocks auffallend dominant, befinden sich doch neben der Sonne auch Merkur, Venus und Saturn in diesem Zeichen, d.h. vier der zehn klassischen Faktoren eines Geburtsbildes. Das ist ein wesentlicher Unterschied.
Die Romanfigur des zögerlichen "Alexis" passte viel besser auf den wahren Conrad als der forsche Ehemann der "Jeanne von Reval" in Liebesläufe. Der Alexis ist im Tempo eines "Largo" jedoch ein Briefroman ohne Handlung, während Liebesläufe im Sinne eines "Vivace" mehr Bewegung mit gelegentlich "fortissimo“ vorgetragenen Passagen brauchte. Der Blick sei damit auf das Komponieren Marguerite Yourcenars gelenkt, das ein freies Kreieren und nicht ein Abarbeiten von Fakten ist. |
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Das wäre vielleicht als bloße Behauptung abzutun, wenn nicht konkrete Tatsachen bewiesen, dass bei der Gestaltung der Romanfigur "Egon von Reval" das Meiste schlichtweg erfunden ist. So hat Conrad von Vietinghoff bestimmt nicht darunter gelitten, vom großen Abenteuer des Jahrhunderts ausgeschlossen zu sein; nicht vom Krieg, den sie beide immer noch verabscheuten, sondern vom Risiko, von den Privilegien der Gefahr, von der Solidarität und manchmal von der Brüderlichkeit der Mannschaften, von der Männerwelt mit ihren menschlichen Kontakten (S.274). Im Gegenteil: er war heilfroh und dankbar, mit Frau und Kindern in der neutralen, schützenden Schweiz dem Kriegshorror entkommen zu sein und darüber hinaus sein Klavierspiel pflegen sowie seiner Lektüre nachgehen zu können.
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Nota bene: Es geht hier nicht um literarische Kritik an der bedeutenden Schriftstellerin, vielmehr um die Gegenüberstellung biographischer Fakten aus Vietinghoffscher Sicht, damit Leser, Kommentatoren und Biographen zwischen Dichtung und Wahrheit besser unterscheiden können und nicht alle romanhaften Ausschmückungen für bare Münze nehmen.
Auf dem Buchumschlag der französischen Originalausgabe von Liebesläufe (Quoi? L'Éternité) heißt es: Ein einziges Chaos, aus dem Marguerite Yourcenar ihr eigenes Universum geschaffen hat. |
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Insbesondere fällt auf, wie oft auch in diesem yourcenarschen Werk die Rede ist von Promiskuität, Prostitution, Bordellen, Huren, Nutten, gewissen Gärten, Kleinstadtspelunken, Obsession, erotischen Abenteuern, Dreiecksverhältnissen, außerehelichen Affären, verschwiegenen Begegnungen, von hübschen, verlogenen, drogensüchtigen oder halbkriminellen Homos, angedeuteten lesbischen Erfahrungen oder lüsternen Verwandten.
Das entspringt Yourcenars eigenem Hang zu "Voyeurismus" und Abenteuern, wobei man sich gelegentlich an das bunte und frivole Oeuvre von Henri de Toulouse-Lautrec erinnert fühlt. Im Kontext von Jeanne und Conrad mutet das fremd an. |
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Liste biographischer Tatsachen, Abweichungen und Erläuterungen zu Liebesläufe
Yourcenars Romanfiguren im Vergleich zu den realen Vietinghoff
(Seitenzahlen nach Fischer TB 10499). 1. Conrad von Vietinghoff war kein Komponist und schon gar nicht ein exzentrischer Musiker (S.124), so dass alle seine Reisen zwecks Erstaufführungen von Opern, Balletts, Hymnen und Klavierkonzerten etc. (S.126, S.138, S.268 u.a.) sowie die Reisen nach London und Skandinavien (S.274f) während des Ersten Weltkriegs allein Yourcenars Fantasie entspringen. Zu keinem Zeitpunkt hatte er einen Lehrauftrag für musikalische Interpretation (S.268). Da sie ihn besuchte als sie 24 und er 57 Jahre alt waren, müsste sie das gewusst haben. Als Pianist beteiligte er sich nur an zwei Wohltätigkeitskonzerten (1910, 1923), sonst lud er zu gelegentlichen Hauskonzerten im erweiterten Freundeskreis Aufführungen fanden weder in Sankt Petersburg noch in Basel statt, weder das Konzert in der Salle Pleyel in Paris (S.210) noch Konzerte in großen und kleinen Schweizer Städten (S.268). Vielleicht entnahm M.Y. ein Element aus der Biographie des damals führenden niederländischen Komponisten Alphons Diepenbrock (1862-1921), der für Vokalwerke und Bühnenmusik bekannt war und 1899 tatsächlich auch die Hymnen an die Nacht von Novalis vertonte, was M.Y. ihrer romanhaften Musikerpersönlichkeit zuschreibt. (S.152) |
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2. Conrad von Vietinghoff ist nach 1913 (wahrscheinlich schon früher) mit Sicherheit nicht mehr ins Baltikum gereist, so dass das ganze dramatische Kapitel mit der Suche nach seiner Familie im Ersten Weltkrieg frei erfunden oder aus Schicksalen anderer kombiniert ist.
Conrad nahm keinen einzigen Tag am antibolschewistischen Kampf in seiner Heimat teil; er verbrachte den Ersten Weltkrieg zuerst in Genf und zog 1916 nach Zürich. Er hatte nie Kontakt zu Revolutionären und hatte keinen jüngeren Bruder, der als Kadett in Kämpfen um Sankt Petersburg gefallen war; Conrad war selbst der Jüngste. Auch keiner seiner drei älteren Brüder beteiligte sich jemals an irgendwelchen Kampfhandlungen, was allerdings von einem seiner Neffen und dem ersten Ehemann seiner Nichte bekannt ist. |
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Dieser Teil des Romans ist eine Art Fortsetzung des Fangschuss; es werden sogar dieselben Namen "Konrad" und "Eric" verwendet (S.277) und die zum Feind übergelaufene Schwester erwähnt (S.278). Auch diese Episode entspricht jedoch weder der biographischen Chronologie noch dem Charakter des wahren Conrads.
Somit müsste eigentlich auch nicht darauf hingewiesen werden, dass seine Mutter, Helene von Vietinghoff, geb. von Transehe-Roseneck, nicht verwahrlost im Baltikum starb, sondern erst 1923 auf dem Schloss ihres ältesten Sohnes Harry in Neschwitz in der Oberlausitz (Sachsen), und sein Vater sowie seine älteren Brüder nicht in der Revolution oder im Bürgerkrieg umgebracht wurden, sondern 1918, 1927 und 1942 eines natürlichen Todes starben. |
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Eine Parallele zu den romanhaften Geschehnissen in Salisburg besteht insofern als der Großvater des Malers, Vater des Conrad, der damals über siebzigjährige Arnold Julius von Vietinghoff bei der Revolution von 1905/1906 in seinem Haus von einem Rädelsführer beinahe erschlagen wurde, hätte er sich nicht mit einer Feuerzange aus dem Kamin mit aller Kraft zur Wehr gesetzt. Das könnte der Maler Egon bei seinen Begegnungen mit der Schriftstellerin Marguerite 1983 oder 1986 erzählt haben.
Es steht jedoch in krassem Widerspruch zum ewig bettlägerigen, am Stock gehenden Alten im Roman (S.284). Schloss Salisburg wurde durch Feuer vernichtet und Arnold Julius lebte danach noch 13 Jahre lang je nach Jahreszeit in der Stadt Riga oder am Rigaer Strand in Bilderlingshof (lettisch Bulduri, Stadtteil des heutigen Jurmala). So lange er lebte, war Conrads Bruder Oscar, der letzte Herr auf Salisburg, in Livland in seiner Nähe. Nach der Revolution von 1917/1918, der ersten großen Enteignung und dem Tod von Arnold Julius (1918) lebte Oscar mit Frau und zwei Kindern in Berlin. |
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3. Die Anekdote mit dem schmutzigen jetzt mit Gold überhäuften Mönch (gemeint ist Rasputin, S.137) hat mit den Vietinghoffs also nichts zu tun, ebenso wie die minutiösen Schilderungen der Ballettaufführungen (S.138ff) und der androgynen Orgie (S.140). M.Y. lässt kaum etwas aus. Das Paar war einmal zur Verlobung und zweimal mit ihren jeweils einjährigen Söhnen bei Conrads Eltern in Salisburg zu Besuch (1901, 1904, 1905). Anlässlich der Erbteilung vom Vater auf die vier Söhne mag Conrad auch schon 1903 alleine dort gewesen sein, falls die Angelegenheit nicht auch 1904 verhandelt wurde.
Um dorthin zu gelangen muss man in Riga Station machen, Sankt Peterburg ist weit weg. Es gab in allen vier baltischen Regionen Familienzweige der Vietinghoffs, so auch in Kurland; das Elternhaus Conrads befand sich jedoch im benachbarten Livland. Conrad war nicht von seiner Karriere als Musiker absorbiert, er machte nämlich gar keine Karriere. [Baltikum im 19. Jh. bis 1918: 1 Kurland, 2+3 Livland, 4 Litauen, 5 Russland --- Später 1+2 Lettland, 3 Estland] |
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Der junge Balte namens "Egon von Reval" soll der Vater des Malers Egon, also Conrad von Vietinghoff darstellen. Anhand weniger Mosaiksteinchen, über die M.Y. verfügt, entwickelt sie eine Romanfigur, die man mit Spannung verfolgt, aber so gut wie gar nichts mit dem Conrad zu tun hat, der sie dazu anregte. Geschickt verwebt sie historische Kenntnisse, Einsichten in gesellschaftliche Gepflogenheiten, soziale Zusammenhänge, kluge Beobachtungen sowie psychologische Nuancen mit ihrem Fantasiereichtum, eigenen Erlebnissen – und ihren Projektionen. Bei der Gestaltung der Romanfigur "Egon von Reval" ist das Meiste schlichtweg erfunden.
4. Der wahre Conrad hatte drei und nicht sechs Brüder, er war auch nicht preußisch erzogen. |
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5. Dass die Deutschen bei Begrüßungen mehr oder weniger hörbar die Hacken zusammennahmen, bedient ein Klischee und ist zur Charakterisierung eines baltischen Barons unpassend – das Baltikum hatte seinen eigenen, legeren Lebensstil. (S.84f)
6. Er studierte nicht am Konservatorium in Riga, auch nicht in Wien, Paris und Zürich, sondern in Dorpat, Leipzig und Berlin, mit einem Abstecher nach Rom. Ob er ein Klavierdiplom in Riga machte ist ungewiss. (S.85 und S.93) 7. (S.85) Seine Familie war bis zu den Russischen Revolutionen 1905 und 1918 zwar reich an Wäldern und Ackerland, aber Conrad v.V. selbst war nicht arm an Bargeld, da er sein Erbe ausgezahlt bekam. Im 19. Jh. besaß Conrads Großvater eines der größten Güter im Baltikum. 8. Nicht Familiendünkel war es, der ihm verbot bezahlte Konzerte zu geben, es waren seine Schüchternheit und Bühnenangst, die Konzerte vor größerem anonymen Publikum verhinderten. 9. Er hatte auch nie seine nervöse Angst vor öffentlichen Auftritten überwunden (S. 268). |
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