Conrad von Vietinghoff, der Vater
5 - Erinnerungen seiner Schwiegertochter Liane
Schnüre…
Als wir nach seinem Tod seinen Haushalt auflösten, fand ich eine Schachtel mit der Beschriftung "Schnüre zu kurz zum Gebrauch". Kommentar: Conrad wuchs auf einem großen Gut auf, wo vieles selber produziert wurde. Was nicht selber hergestellt werden konnte, musste per Pferdewagen in entfernteren Städtchen oder sogar in der Hauptstadt besorgt werden. Er erlebte auch die Krisenjahre durch die Russische Revolution, die beiden Weltkriege, die Inflation und verlor schließlich einen Teil seines Vermögens auf Grund seiner Naivität und seiner Großzügigkeit. Auch wenn er in seinen ersten 60 Jahren nicht wirklich zu sparen brauchte, war es ihm immer im Bewusstsein, dass auch kleine Dinge etwas wert und sehr nützlich waren. Etwas wegzuwerfen, war "schade" und deshalb eine innere Überwindung. Der Hausierer… Conrad zog 1950 in ein kleines privates Altersheim um und Fräulein E. aus der höheren Zürcher Gesellschaft half ihm beim Einpacken. Dabei zog sie aus einer Schublade ein schwarzes und ein rosa Damenstrumpfband. Er war bereits gegen 80 Jahre alt und hatte bestimmt nie "Damenbesuch" gehabt, außer von Verehrerinnen seines Klavierspiels und seinen Schwiegertöchtern. Angesichts seines asketischen Lebenswandels über diesen Fund ziemlich verwundert, hielt sie ihm die beiden Stücke mit fragendem Blick stumm entgegen. Der Hausierer hatte nichts anderes, war die etwas verlegene, hilflose Antwort. |
||
6 - Homo...
Man sollte unbedingt berücksichtigen, dass in jener Zeit selbstverständlich und ganz allgemein – wie heute noch in sehr vielen Ländern und Familien – nicht über Sexualität geredet wurde, es war ein Tabu. Selbst der Begriff "homosexuell" wurde erst 1868 kreiert, war nicht geläufig und kam Conrad nie über die Lippen. "Homo" ("gleich") kommt aus dem Griechischen, das Conrad studierte und dessen Kultur er sehr zugetan war, "sexus" dagegen aus dem Lateinischen ("Geschlecht"). "Homo-sexuell" ist ein erfundener Sprachzwitter wie auch etwa "Auto-mobil".
Dieses in unseren Gesellschaften heute fast selbstverständlich gebrauchte Wort mag zu Conrads Lebzeiten zwar im Vokabular von Psychoanalytikern seinen Platz gefunden zu haben, sicherlich war es aber – ebenso wie andere heute gängige volkstümliche Bezeichnungen für das selbe Phänomen – nicht in seinem persönlichen Sprachgebrauch. Selbst in einem Brief mit einem seiner besten Freunde kürzte er mit "H.S." ab. Es war "zu medizinisch", wie Marguerite Yourcenar selbst viel später urteilt. Conrad sprach von "homo-trop" (dem Gleichen zugewendet / zugeneigt) oder von "homo-phil" (Gleiches liebend): heute beinahe ausgestorbene Begriffe. "Homo-tropie", "Homo-philie" oder "Homo-erotik" (Erotik unter Gleichen) – alles rein griechische Begriffe – setzen den Akzent auf Allgemeineres und Subtileres als auf Sex. Heute bekannte Verkürzungen, die sich manifestieren in Ausdrücken wie "Liebe machen", waren nicht vereinbar mit Conrads Menschenbild sowie seinen heiligen und romantischen Vorstellungen. |
||
Es ist heute kaum noch nachzuvollziehen, dass man in Conrads erster Lebenshälfte mit Badeanzügen schwimmen ging, bei denen nur die Unterarme und Fußknöchel herausschauen durften – zuerst sogar Männer und Frauen nur in getrennten Badeanstalten. Alles andere galt als unsittlich und Abweichungen von heute absolut lächerlich erscheinenden Vorschriften wurden mit Geldstrafe oder Gefängnis belegt. Natürlich gab es damals kein offenes Gay-Life so wie heutzutage (und das ja auch nicht in allen Ländern!). Als der extravagante Oscar Wilde nach einem skandalösen Prozess in England wegen Homosexualität zu zwei Jahren Zuchthaus mit Zwangsarbeit verurteilt wurde, war Conrad 24 Jahre alt. Das ging damals durch die Weltpresse! Auch das Beziehungsdrama zwischen den beiden französischen Schriftstellern Paul Verlaine und Arthur Rimbaud in den 1870ern war noch nicht vergessen.
Die sensible Minderheit beklagte – ebenso wie heute – die dominante Brutalität der Welt, die sich zu Lebzeiten Conrads u.a. in den russischen Revolutionen, in Bürgerkriegen in Russland, China und Spanien, im russisch-japanischen Krieg, in zwei Weltkriegen, dem Holocaust, im Korea-Krieg und im stalinistischen Regime manifestierte. Während dieser Kriege und Diktaturen sind mindestens 120 Millionen Menschen umgekommen. Conrad selbst verlor durch die russischen Revolutionen seine Heimat. |
||
Wie viel, wie oft und bei welchen Gelegenheiten Conrad seine Gefühle jemals auslebte, ist nicht zu sagen. Aufgrund von Aussagen seines vertrautesten Freundes seiner letzten 30 Jahre ist anzunehmen, dass er (zumindest in dieser Zeit) seine Gefühle wahrscheinlich niemals körperlich auslebte – ähnlich wie sein Zeitgenosse Thomas Mann (1875-1955). In Gesprächen und in Briefkorrespondenz mit einigen wenigen Gleichgesinnten schwärmte und philosophierte man über das altgriechische Ideal der "Kalokagathie" (schön und gleichzeitig gut zu sein), über den Unterschied von "Eros" und "Agape" (erotisch-emotionale und platonisch-selbstlose Liebe), über den göttlichen Aspekt der Liebe und über Edle Einfalt – stille Größe (J.J. Winckelmann).
|
||
Mit seinen Freunden las er Plato (selbstverständlich im griechischen Original) und die Gedichte von Paul Verlaine (1844-1896) und Arthur Rimbaud (1854-1891) in Französisch. Mit wissender Anteilnahme verstanden sie die Novellen von Ernst Wiechert (1887-1955) sowie die Lyrik von August Graf von Platen (1796-1835) und Stefan George (1868-1933) mit seiner Hommage an die männliche Jugend. Aufmerksam verfolgten sie die Publikationen von Hans Blüher (1888-1955), der sich bemerkenswert deutlich zur Erotik zwischen Männern äußerte.
Sie setzten sich innerlich auseinander mit den großen Erfolgen der homosexuellen Schriftsteller Marcel Proust (Ehrenlegion 1920), Thomas Mann (Literatur-Nobelpreis 1929) und André Gide (Literatur-Nobelpreis 1947) und mit denen mit homoerotischen Elementen in ihrem Werk, wie Hermann Hesse (Literatur-Nobelpreis 1946). |
||
Auch wenn nicht alle Genannten in allen Belangen vor seinem Urteil gleichermaßen bestanden und nicht alle ihre Werke zu seiner Lieblingslektüre gehörten, so muss es für Conrad doch eine Genugtuung gewesen sein, zu sehen, dass Menschen mit homophilen Gefühlen international gewürdigt wurden – den alltäglichen Vorurteilen und Diskriminierungen zum Trotz.
Abgesehen von besonders Extravertierten, lebten damals alle von diesem schicksalhaften Thema betroffenen Menschen möglichst unauffällig oder in innerer Emigration. Viele von ihnen transformierten ihre Lebensenergie in künstlerisches Schaffen; die Schriftsteller Marcel Proust (1871-1922) und Thomas Mann (1875-1955) sind prominente Beispiele dafür. Kein Wunder dass die Menschen dieser großen Minderheit auf die Anregungen allgemein bekannter Bi- oder Homosexueller und auf die diskrete Empathie ihrer Freunde angewiesen waren – so wie es heute noch teilweise der Fall ist, je nach Gesellschaft und Landesgesetzen. |
||
Bei aller Verwandtschaft zu diesen Dichtern, Denkern und Leidensgenossen waren ihm – seinem hochsensiblen Wesen entsprechend – die Werke von Friedrich Hölderlin (1770-1843), Rainer Maria Rilke (1875-1926) und der Dichter der deutschen Romantik ebenso nahe.
Unter Conrads Freunden diskutierte man ebenso über altgriechische Dramen, über Dante und die deutsche Literatur wie über die aktuelle politische Entwicklung. Sie waren kritisch gegenüber Hermann Hesse (1877-1962) und vertieften sich in das Werk von Fjodor Dostojewski (1821-1881) und Friedrich Nietzsche (1844-1900), mit dessen Schwester Conrad ein wenig korrespondierte. Im Laufe der Zeit dehnten sich ihre Gespräche auf andere bedeutende Zeitgenossen wie C.G. Jung (1875-1961) und Martin Niemöller (1892-1984) aus. Conrad von Vietinghoff sublimierte sein erotisches Lebensthema mit der Lektüre entsprechender Literatur und der Bibel sowie in Gesprächen und Briefen einiger weniger Freunde – natürlich auch in seinem Klavierspiel. Seine Frau, Jeanne, verarbeitete ihre tiefgründigen Fragen und tragischen Lebensthemen in innerer Schulung und im Schreiben. Marguerite Yourcenar tat es in ihren Werken auf ihre Weise. Die Lebensdaten sind angegeben, um zu zeigen, dass die meisten der Genannten Zeitgenossen Conrads waren und wie aktuell die Auseinandersetzung mit ihnen damals war. |
||
7 - Conrad als Inspiration für die Romane von Marguerite Yourcenar
Die Schriftstellerin M. Y. kannte Conrad kaum: einerseits aus Erzählungen ihres Vaters, andererseits aus wenigen Begegnungen, nämlich sicherlich im Alter von zwei, sehr wahrscheinlich noch ein Mal im Alter von drei Jahren, möglicherweise ein weiteres Mal als Jugendliche. Im Alter von 24 Jahren scheint sie den verwitweten Conrad in Zürich oder in Zollikon aufgesucht zu haben, nachdem sie zum Grab von Jeanne am Genfersee gepilgert war. Das Treffen müsste Ende August 1927 stattgefunden haben, wahrscheinlich am Tag bevor sie ihr erstes richtiges Werk in Angriff nahm: den Roman "Alexis oder der vergebliche Kampf." Es ist unwahrscheinlich, dass Conrad davon wusste und den Roman kannte.
Conrads von Vietinghoffs ungewöhnliche und extrem introvertierte Persönlichkeit wurde von der einmaligen Ausstrahlung seiner Frau Jeanne überblendet, der Marguerite Yourcenar viel prägenderen Persönlichkeit. Es verwundert nicht, dass Jeanne bei ihr eine besondere Stellung innehatte, war sie doch die beste Freundin ihrer im Kindbett verstorbenen Mutter. Als Inspiration für M. Yourcenar war Jeanne der Anreiz schlechthin: sie war eine Frau, sie war Schriftstellerin, spirituell, charakterstark, souverän und schön – kurzum die logische Identifikationsfigur. Ohnehin war Jeanne ein unerreichbares Vorbild für alle, die sie kannten. |
||
Marguerite Yourcenars menschliche Anteilnahme, psychologische Neugier, Selbstreflexion und erotische Phantasien mussten jedoch Conrad ebenfalls zwangsläufig umkreisen. Er war es, der die schönste, stärkste und die begehrenswerteste Frau und Mutter um sich hatte bzw. gehabt hatte; er war es, der sich mit ihr intim austauschen und ein gemeinsames Leben von immerhin mindestens 26 Jahren teilen durfte – mit welchen Verabredungen, Lücken und Einschränkungen auch immer.
Wie in musikalischen Kompositionen gab es also noch ein zweites, gleich starkes Leitmotiv im Yourcenarschen Werk: die Gefühlswelt des Conrad selbst, unabhängig von Jeanne, zugleich aber Yourcenars eigene. Es war ihr nicht möglich, ihr Interesse ausschließlich auf eine Person zu konzentrieren: die eine (Jeanne) war zwar dominant, unübertrefflich und ihre Vorbildlichkeit war gesellschaftskonform, die zweite zurückgezogenere und deshalb geheimnisvollere (Conrad) war ihr aber durch gemeinsame Wünsche und Probleme wieder näher. Dass ausgerechnet der Ehemann der von Marguerite Yourcenar am meisten bewunderten Frau ein (erster?) Gleichgesinnter war, machte ihn – nach Jeanne – zur zweiten Identifikationsfigur ihres literarischen Werks. Ob Conrad von Yourcenars Neigungen jemals erfuhr, ist eher unwahrscheinlich. |
||
Conrad war nur am Klavier äußerst ausdrucksstark, im Übrigen stand er im Schatten Jeannes, seiner leuchtenden Lebensgefährtin, und dieser Schatten zog genau so an. Mangels persönlicher Kenntnis musste Marguerite Yourcenar allerdings die unterbelichteten Stellen ihres Conrad-Bildes mit eigener Imagination und eigenen Antworten auf existentielle Fragen ausfüllen.
Insofern waren die Eltern des Malers Egon v.Vietinghoff die idealen Leitbilder und Projektionsfiguren für Yourcenars literarisches Schaffen. Es entstand ein verwirrendes Geflecht von Wahrheit und Dichtung. So lieferten die eigenen Wünsche, Widersprüche und Liebeserfahrungen sowie die Erinnerung an das äußerst bemerkenswerte Ehepaar Conrad und Jeanne literarischen Stoff für mehr als einen Roman in Yourcenars Opus. Dabei entfernten sich die Romanfiguren immer weiter von den historischen Vorbildern – besonders bei Conrad bis zu dessen Unkenntlichkeit. In diesem Zusammenhang sind auch die bedeutungsvollen Titel und Untertitel von Yourcenars eigenen Büchern und ihrer Biographen bezeichnend: Das Labyrinth der Welt, Der Fall der Masken, Die Erfindung eines Lebens, Träume und Schicksale, Leidenschaft und ihre Masken, Die Wanderin im Labyrinth der Welt. |
||
Die stark verbindenden Parallelen Yourcenar-Vietinghoff, die unauflösbaren Polaritäten der Themen allgemein und jener innerhalb der Ehe zwischen Jeanne und Conrad sowie derjenigen, welche sich in der Phantasie zwischen Yourcenar und den beiden Vietinghoffs aufbauten, waren so grundsätzlich und vielschichtig, dass sie sich nicht in einem einzigen Band darstellen oder gar erlösend transformieren ließen. Sie konnten nur fortlaufend gelebt und in literarischen Variationen immer wieder ausgebreitet werden.
Der stille Conrad übte auf Marguerite Yourcenar eine eigene Faszination aus: mit ihm teilte sie das gleiche "Geheimnis" der Homoerotik. Nach dem Skandal und dem persönlichen Desaster von Oscar Wilde (1854-1900) war es André Gide (1869-1951), der als international bekannter Schriftsteller diese erotische Orientierung gegenüber der Gesellschaft behauptete. |
||
Margerite Yourcenar ist auch Jeanne zwar nur wenige Male begegnet, hat aber von ihrem Vater (Michel de Crayencour) einiges über sie gehört (wie viel?). Einerseits hat sie von ihr deshalb ein viel plastischeres und auch realeres Bild als von Conrad. Andererseits bietet sich dieser gerade wegen der nur skizzenhaften Umrisse, die Marguerite von ihm hat, ihr als ideale Projektionsfigur an. Sie ergänzt ihn, wie sie sich ihn vorstellt oder wie sie ihn in ihren Romanen brauchen kann.
M. Yourcenar kann sich an viele Details ihrer frühen Jahre naturgemäß nicht erinnern und füllt einige dieser Lücken mit einem Gemisch aus psychologisch glaubwürdiger Rekonstruktion und Dramaturgie sowie aus Selbstreflexion und Poesie. Oft ist es nicht so, dass sie Geschichten aus der Vergangenheit belebt und für den Leser durchsichtig macht, sondern – fast umgekehrt – sie benutzt die Unklarheit des Vergangenen als Rahmen, in den sie eigene aktuelle Gefühle integriert. |
||
Dies wird bei anderen ihrer Bücher, die vom Eindruck des Ehepaars Conrad und Jeanne auf die junge Marguerite ausgehen, noch viel deutlicher: In den Romanen "Die neue Eurydike" (1931) und "Der Fangschuss" (franz. 1939, dt. 1968) agieren Figuren, die immer weniger mit den tatsächlichen Eltern des Malers Egon von Vietinghoff zu tun haben, obwohl sie auch deren Charakterzüge und teilweise sogar ihre wahren Namen verwendet. Echte Spuren Jeannes finden sich im Roman "Ich zähmte die Wölfin" und in der Erzählung "Anna, soror…", dort jedoch kaum welche von Conrad.
|
||
Ein von Yourcenar eingesetztes Mittel, um Distanz zur Realität zu erreichen, ist nicht nur einfaches Ersetzen von Namen, sondern auch das Vertauschen über Kreuz: Conrad wird zu Alexis oder Egon, Alexis zu Axel u.ä. Damit bleibt trotz allem eine gewisse Verbindung zur Wirklichkeit. Diese Neigung manifestierte sich schon in ihrem Pseudonym, das sie durch eine andere Anordnung der Buchstaben ihres eigentlichen Familiennamens bildete: nämlich aus Crayencour wurde das Anagramm Yourcenar, nur das zweite "C" blieb dabei auf der Strecke – sie war ja nicht pedantisch.
Obgleich sie sich in historische Zeiten und Individuen einfühlt und über ein breites Wissen verfügt, lässt sie offen, phantasiert, assoziiert. Sie gestaltet mit Worten. Dabei sind homoerotische Beziehungen eines ihres auffälligsten Lieblingsthemen, womit sie Ihre eigene Homosexualität oder ihre Liebesgefühle zu homosexuellen Männern verarbeitet. Conrad v. V. selbst sublimierte sein Lebensthema in der Lektüre geeigneter Literatur und der Bibel, im Gespräch und in der Korrespondenz mit wenigen Freunden und – wie viele Sensible – vor allem in seiner Kunst, dem Klavierspiel. Seine Frau Jeanne verarbeitete ihre komplexe und auch tragische Lebensthematik durch innere Schulung und literarisch in ihren eigenen Büchern. Marguerite Yourcenar tat es auf ihre Weise in ihrem Werk. |
||
Yourcenar war eine Meisterin im Verwischen eigener Spuren, im Verwirr- und Versteckspiel. Selbst Biographen fallen darauf herein und nehmen die in den Romanen beschriebenen Eigenschaften der Vietinghoffs für bare Münze. So sind immer wieder falsche "Beschreibungen" besonders von Conrad zu lesen. Sie beziehen sich sowohl auf seinen Beruf und seine biographische Daten als auch auf seine Vorlieben und sein Verhalten.
In ihrer Einführung zur Biographie über M. Yourcenar schreibt J. Savigneau: "Wie viel an diesem Durcheinander ist Absicht? und "Wirklich interessiert hat sie an ihrem Leben nur, was einen Vorwand zu literarischer Umformung liefern konnte." "Jedes literarische Werk ist also gemacht aus einer Mischung von Vorstellung, Erinnerung und Tatsachen, von Kenntnissen und Informationen, die im Laufe des Lebens übers Gespräch oder durch Bücher erworben wurden, und aus der Spreu unserer Existenz. (M. Yourcenar, Nachwort zu Un Homme obscur, dt. Ein Mann im Dunkel) |
||
8 - Alexis oder der vergebliche Kampf
Conrad von Vietinghoff hatte zwei Söhne: den 1903 geborenen späteren Maler Egon und den 1½ Jahre jüngeren Alexis. Ohne sein Wissen wird Conrad zur Figur des "Alexis" im gleichnamigen Erstlingsroman Marguerite Yourcenars, deren Eltern Freunde der Vietinghoffs waren (1929, deutsch 1956). Der Name Alexis kommt vom Vater von Jeanne de Vietinghoff, dem Belgier Alexis Pierre Bricou. Der im Roman Alexis Dargestellte ist Conrad, dem Marguerite Yourcenar den Namen seines jüngeren Sohnes gab. Der Roman erschien ja 1929 noch zu Lebzeiten von Conrad, Egon und Alexis. Jeanne, im Roman "Monique (Monika)", war drei Jahre zuvor gestorben. Namen zu vertauschen ist ein einfaches und von Yourcenar oft angewandtes Mittel, die Konturen der Realität wenigstens teilweise zu verwischen. Sie war jung und in der damaligen Zeit vorsichtiger; der Eindruck Conrads war jedoch frisch.
Durch die Änderung des Namens entzieht sich Marguerite Yourcenar teilweise aber auch der Notwendigkeit, den tatsächlichen Conrad biographisch korrekt zu porträtieren, und ist frei, eine Romanfigur zu beschreiben, die auch die Gefühle der Autorin selbst ausdrückt. Sie füllt die leeren Stellen des Bildes, das sie von Conrad hat, mit ihren eigenen Empfindungen und Visionen aus: Sie schreibt ja keine Reportagen, sondern Literatur. |
||
Als Briefroman beinhaltet Alexis keine Handlung, sondern monologische Reflexionen eines letzten Nachkommens aus adliger Familie über sein Leben, seine Motive, Ängste, Leidenschaften und Unterlassungen. Die Autorin versucht hier das Porträts einer Stimme anzufertigen. In diesem langen Abschiedsbrief an seine Frau Monika ringt er um Wahrheit und um das Bekenntnis seiner verheimlichten Homosexualität. In knappem Stil entwickelt M.Y. einfühlsam und mit subtilen Anspielungen ganz allmählich den quälenden inneren Konflikt.
Alles, was Marguerite Yourcenar über Conrad wusste, konnte vier Quellen haben. Es waren allenfalls die Andeutungen einer disziplinierten, verantwortungsvollen Erwachsenen (Jeanne) gegenüber einer Heranwachsenden (Marguerite), die sie nur wenige Male sah. Zweitens berichtet Yourcenar selbst, dass sie in Gesprächen mit ihrem Vater, Michel de Crayencour, einige Anhaltspunkte (oder die ganze Geschichte?) über das Zusammenleben von Conrad und Jeanne erzählt bekam und über Jeannes Verehrung seitens Michel, den eigenen Vater. Drittens traf sie ihn aller Wahrscheinlichkeit nach als junge Frau 1927 zu einem oder zwei Gesprächen, die sie zu dem Briefroman Alexis anregten. Schließlich verfügte sie selbst reichlich über Intuition, Beobachtungsgabe und kombinatorische Intelligenz, um sich auf das Eine oder Andere einen Reim zu machen. Conrad inspirierte sie also zu ihrem Titelhelden "Alexis", dessen Zögern, Unsicherheit und Skrupel sie sprachlich schmucklos, fast abstract, gleichzeitig vorsichtig und präzise beschreibt (s. Vorwort zu Oeuvres romanesques S.4). Besonders einfühlsam und überzeugend gelingt es ihr, die Aura dieses vornehmen und liebenswürdigen Herren einzufangen. Der im Roman Dargestellte ist eindeutig Conrad. Die Figur ist zwar äußerst glaubwürdig und kommt Conrad in vielen Aspekten sehr nahe, Einiges ist aber offensichtlich bewusst verändert, aus dem Leben der Autorin hineinprojiziert oder bekommt sein literarisches Eigenleben. Es ist nicht leicht, Marguerite Yourcenars beliebtes Verwirrspiel von Dichtung und Wahrheit zu durchschauen, weshalb sogar in den Biographien über sie mehrere Fehler bezüglich Conrads auftauchen, die einmal ausgesprochen von anderen wieder übernommen werden. |
||
Gleichzeitig stand die zweite Ekloge des römischen Dichters Vergil (70-19 v.u.Z.) namens Alexis Pate beim Titel des Romans, der eher ein biographischer Essay oder eine Novelle in Briefform ist. In Vergils Hirtengedicht geht es um einen schönen Jüngling, der von Corydon umworben wird. Dessen Namen lieh sich ein anderer Schriftsteller französischer Sprache 1911 für einen Buchtitel und löste bei dessen Veröffentlichung 1924 einen Skandal aus: der Literatur-Nobelpreisträger André Gide. Eine weitere Assoziation zu Gide ergibt der Vergleich des vollen Titels auf Französisch Alexis oder die Abhandlung über den vergeblichen (zwecklosen, sinnlosen, aussichtslosen) Kampf mit einem anderen aus Gides Oeuvre: Der Liebesversuch oder die Abhandlung über das vergebliche (zwecklose, sinnlose, aussichtslose) Verlangen von 1893. Das ist kein Zufall.
Schon in jungen Jahren spielte Marguerite Yourcenar bewusst mit solchen Assoziationen und hatte schon früh den Ehrgeiz, sich in die große französische Literatur einzureihen. Ob sie oder Gide ein noch früheres Buch unter dem Titel Alexis ou l‘Histoire d‘un soldat russe von 1796/98 (Alexis oder die Geschichte eines russischen Soldaten) gelesen hatten, ist nicht bekannt. Pikanterweise stammt es aus der Feder der bereits erwähnten Baronin Barbara von Krüdener, geborenen Vietinghoff. |
||
Gemäß der Beobachtungen und Überlieferungen innerhalb der Familie sowie der Zeugnisse aus dem Nachlass und von Zeitgenossen ergibt sich zwar ein auf Conrad erstaunlich zutreffendes Bild. Aber literarische Figur und Wirklichkeit entsprechen sich nicht in allen Punkten. Das müssen sie ja auch nicht! Der Alexis ist ein Roman und keine Biographie! Was an "Fremdem" hinzukommt, ist naturgemäß Yourcenars eigenes Fühlen und Denken. Als Schriftstellerin ist es ihr gutes Recht, sich bedeckt zu halten und ihre eigenen Gefühle in ihre Figuren einzuweben. Nicht zu vergessen ist das Entstehungsjahr (1927/28) und dass es ihr Debüt war: die Zeit war gewiss noch nicht reif, sich zu outen. Marguerite de Crayencour bediente sich denn auch des Pseudonyms Yourcenar, bei dem sie nach dem Erfolg von Alexis auch blieb. Sie "versteckte" sich nicht nur hinter einer männlichen Hauptperson, sondern auch hinter einem veränderten Namen (Anagramm). Gleichzeitig bekennt sie indirekt doch Farbe, indem sie die Ich-Form wählte – wie später als Hadrian in Ich zähmte die Wölfin.
Die Überlegungen, die Skrupel und die vorsichtige Entwicklung der Gedanken des "Alexis" entsprechen ganz dem Menschen Conrad, die einzelnen Fakten jedoch nicht. Auch wenn sie anders waren, ändert dies nichts an der richtig erfassten Tragik dieser Partnerschaft. Außerdem liegt der literarische Wert nicht in der präzisen Wiedergabe von Fakten oder der Beschreibung der Hauptfigur, sondern in der erzeugten Atmosphäre, den psychologischen Nuancen, den aphoristischen Assoziationen und in der ihr eigenen Sprache als solcher. Insbesondere sind Zweifel an der "Echtheit" des tatsächlichen Conrad angebracht, wenn die Romanfigur "Alexis" erst nach längerem Zusammensein bekennt, dass die Ehe mit Monika quasi auf einer Lüge aufbaute. Das passt weder zu den Charakteren von Conrad und Jeanne noch zum Zeugnis einer ihr nahen Freundin, Hélène Naville, die in ihrem Nachruf auf Jeanne schreibt: Sie vertrauten sich ihr Leid mit vollständiger Offenheit an: ihre Enttäuschungen, ihre Sehnsüchte, ihre Lebenseindrücke und Lebensziele. Und sie bezieht dies auf die Zeit des Kennenlernens. Gemeint sind damit das gegenseitige Mitgefühl von Conrad für Jeannes schmerzlichste Erfahrung mit ihrem schwedischen Verlobten einerseits und dasjenige von Jeanne für Conrads verhinderte Liebesbedürfnisse andererseits. Dass die beiden mit einer konventionell geschlossenen Ehe und zwei Kindern nach Kompromissen und einem Modus vivendi suchten, ist dabei kein Widerspruch. Gewiss, viele anfängliche beiderseitige Hoffnungen erfüllten sich nicht und Conrad konnte nicht gegen seine Natur leben. |
||
Bei Kenntnis des historischen Conrad ist es ebenso befremdlich (wenngleich nicht mit absoluter Gewissheit auszuschließen), eine suizidale Gefährdung des "Alexis" oder außereheliche, banale und anonyme Abenteuer gegen Bezahlung auf Conrad von Vietinghoff zurückzuführen. Nach allem verfügbaren Wissen über die Person Conrad entspricht derartiges Verhalten der Romanfigur "Alexis" eher der Phantasie der Romanschreiberin, denn solche Wünsche und Episoden passen vielmehr in die Erlebniswelt von Marguerite Yourcenar selbst. Sie liebäugelte mit derartigen Abenteuern sogar noch in fortgeschrittenerem Alter als es dem von Conrad im Jahre 1927 entsprach und dem jungen "Alexis" im Roman.
Ihre Streifzüge durch die Amüsierviertel von Hamburg, Amsterdam, Bombay und Tokio sind belegt und noch mit 80 Jahren bekennt sie anlässlich eines Bummels durch das Rotlichtviertel Amsterdams: Ich liebe diese Frauen im Schaufenster auf zärtliche Weise... Ich finde das sprechende und naive Plakat mit den Liebesstellungen wieder, die Schattenspiele, die Sex-Shops mit den riesigen Phallen. Eine junge Frau sagt...: ‚Hätten die Herrschaften nicht Lust auf eine kleine Spezialität?‘. Aber die Gruppe sucht ein Taxi, denn es fängt an zu regnen. ... Wäre ich mit J. ... allein gewesen, ich glaube, ich hätte die Spezialität probiert und sehen wollen, wohin sie führt. Zu viert war es unmöglich... Ich habe noch oft an diese Unbekannte gedacht, die dem Erstbesten und der Erstbesten ihr Weichstes und Süßestes anbot… Und André Fraigneau stellt Jahrzehnte früher fest: Sie liebte die Bars, den Alkohol, die langen Gespräche. Unaufhörlich versuchte sie, andere zu verführen. Was Conrad betrifft, so gibt es keine handfesten Anzeichen für solches Verhalten. Siehe auch unten "Bemerkungen und Korrekturen". |
||