Anekdoten
Anekdoten
1. Der 6. Sinn
2. Der Reiskocher 3. Das Weihnachtsgeschenk 4. Bergidylle 5. Das Kolosseum von Rome 6. Die Teestunde 7. Die Sonnenfinsternis 8. Der Toaster 9. In einem Belgischen Restaurant 10. Wiedersehen mit Marcella 11. Die Gebrüder Piccard 12. Das imaginierte Familienfoto 13. Der Hungerstreik 14. Die letzten 3 Wochen |
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1 – Der 6. Sinn (ca. 1907-1910, 1921, 1924-1928) ![]() Zum anderen wuchs in ihm anhand ungewöhnlicher Begebenheiten schon in frühen Jahren die Gewissheit der Existenz eines irrational funktionierenden Sinnesorgans. Darunter verstand er dann das Wahrnehmungsvermögen parapsychologischer Phänomene. Vor dem Einschlafen kamen die Eltern an die Betten der Kinder, um "Gute Nacht" zu sagen. Es wurde ein Gebet gesprochen, an dessen Schluss die Namen derer aufgezählt wurden, welche vom Lieben Gott beschützt werden sollten. Eines Abends fügte der kleine Egon auch den Namen eines entfernten älteren Verwandten an, den er nur einige wenige Male gesehen hatte und von dem kaum die Rede war. Als die verwunderte Mutter nachfragte, warum er erstmalig gerade ihn mit ins Gebet einbezog, wiederholte er nur seinen Wunsch, dass dieser Mensch von den Engeln in Obhut genommen werden möchte. Später erfuhr man, dass er in dieser Nacht starb. |
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![]() Nach dem Marsch über die Sierra Nevada im Mai 1921 in der Hafenstadt Malaga angekommen, war A. – ohne Vorankündigung – plötzlich verschwunden, und von der Suche nach ihm ermüdet, setzte sich Egon in eines der Cafés. Von den vielen Tischen waren mehrere frei, er setzte sich wahllos an einen hin. Zu seinem riesigen Erstaunen lag dort ein Zettel mit den Worten: "Lieber Egon, ich habe das Schiff nach Gibraltar genommen und fahre von dort nach Ägypten. Gute Weiterreise. A." Das Rätsel, wie die Mitteilung ausgerechnet auf diesen Tisch in diesem Café kam, blieb für Egon ein Geheimnis. Zwar tauschten sie wegen gemeinsam gelagerter Post noch einmal Telegramme aus, gesehen hat er ihn aber nie mehr wieder... |
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![]() Noch über diesen lustigen Zufall sinnend war sein Erstaunen umso größer als er um die nächste Ecke bog. Da kam ihm schon wieder so ein Paar entgegen! Doch diesmal lief bereits der Hund mit dem Schwanz wedelnd auf ihn zu und es gab eine herzliche Begrüßung: es waren tatsächlich seine Verwandten, die ihm erklärten, warum sie trotzdem nach Saint-Tropez gekommen waren. Für Egon war es eine weitere überzeugende Erfahrung von Intuition und Sechstem Sinn, denn wie sollte er sich dies alles sonst erklären? |
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2 – Reis, Reis und nochmals Reis (1938/1940) ![]() Die Einrichtung bestand aus dem Allernötigsten, Kleidungsstücke bewahrte er in einem Koffer auf, der auf dem Boden lag. Darauf stand eine lose elektrische Platte, auf der er in einem größeren Topf gleich eine ganze Packung Reis kochte. Davon aß er, so viel er eben mochte, und wärmte tags darauf den Rest wieder auf, und dies über mehrere Tage bis der Topf leer war. Als er einmal aus dem Hause ging, vergaß er die Platte auszuschalten, die dann Zeit hatte, sich durch den Kofferdeckel sowie durch sämtliche Hemden und den Frack zu brennen. Durch ein enormes kreisrundes Loch in ihrer Mitte waren sie alle unbrauchbar geworden – unnötig zu sagen, was für ein Schaden es damals für ihn bedeutete. Seither bevorzugte er Kartoffeln oder Nudeln. |
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3 – Das Weihnachtsgeschenk (1956) ![]() Einmal pro Woche ging sie in den Kurs, bekam Anweisungen und Materialien, die sie dann zu Hause anwendete. Der Tisch im Wohnzimmer wurde geteilt: auf der einen Schmalseite saß er, auf der anderen arbeitete sie. Zum Essen räumte sie ihre Hälfte ab und Egon zog von hüben nach drüben. Während der gemeinsamen Mahlzeit warteten die im Wasserbad schwimmenden oder schon sorgfältig sortierten Briefmarken, denn sie hatten noch einen langen Abend vor sich – Vietinghoff ging damals oft erst gegen zwei Uhr nachts schlafen. |
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![]() Egons Horizont war identisch mit dem Lichtkegel seiner Lampe, innerhalb dessen er mit Lupe, Pinzette, Klebefalzen und Spucke Marken aller Länder in Katalogen identifizierte und fein säuberlich in einer wachsenden Zahl anderer Alben unterbrachte. Aktuelle Preise wurden mit spitzem Bleistift hinzugefügt, Massenware in winzigen Päckchen gebündelt. An Heiligabend übergab ihm Liane ihre individuellen und arbeitsintensiven Geschenke. "Aber, das sind ja die Fotos meiner Bilder!" wunderte sich der Künstler und Markensammler. "Ja, ich habe die einzelnen Blätter zusammengebunden, dann fliegen sie nicht so rum und es sieht besser aus: das ist mein Weihnachtsgeschenk". "Danke dir sehr, das ist wirklich schön! – Aber wann hast du das bloß gemacht?" Diese Geschichte gründet gewiss in Vietinghoffs unbeschreiblicher Konzentrationsfähigkeit. Manchmal war er allerdings auch nur in seine Gedanken versunken, wenn er gleichzeitig uninteressante alltägliche Notwendigkeiten verrichtete. So stellte er eines Nachts den Milchtopf an den Straßenrand und wunderte sich danach, dass der Mülleimer nicht ins "Milchkästchen" im Hauseingang passte, in dem der Milchtopf hätte deponiert werden sollen, damit ihn der Milchmann morgens in aller Frühe mit frischer Milch fürs Frühstück füllen konnte. |
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4 – Bergidylle (1958) ![]() Saalbach entwickelte sich erst später zum modischen Wintersportort. Die Unterkunft war bemerkenswert schlicht, da die einst bischöflichen Gemächer von anderen Gästen belegt waren. Statt im Speisesaal mochte Liane lieber mit der ihr bekannten Bauernfamilie in der Küche essen, wo man abends Deftiges aus dem gemeinsamen Topf in der Tischmitte löffelte. Liane war darauf aus, Egon die Schönheit der Berge schmackhaft zu machen und ihn an ihren Naturerlebnissen teilhaben zu lassen. "Hinterglemm", der Name des Talabschnitts hinter Saalbach, nährte jedoch schon im Voraus Egons Befürchtungen von Enge, mühseligen Steigungen und düsteren Abhängen. Vorurteile, wie Liane meinte. |
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![]() Einmal glaubte Vietinghoff, die Familie mit einem Knüppel heldenhaft vor einem nahenden Pferd beschützen zu müssen, ein anderes Mal vor einem angeblichen Stier, dessen Gefährlichkeit noch Jahre lang Anlass zu innerfamiliären Diskussionen gab, da das Tier sein Hinterteil im Dunkel eines Stalls versteckte und von Liane als harmlose Kuh bezeichnet wurde. Man muss dem Maler allerdings zugutehalten, dass er durch Erzählungen von Dorfbewohnern über aufgespießte Knechte alarmiert war. Zwischendurch suchte er die Betonsockel der Stützen des damals einzigen (!) Skilifts auf, der in der Sommersaison ruhte, und machte dort Gehbewegungen auf kleinstem Raum, mit dem Ausruf "Wie angenehm es doch ist, die Füße in die Horizontale zu setzen. Das ist doch viel natürlicher!" |
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![]() Auch Egon war nachdenklich und still. "Jetzt hat ihn der Zauber der Berge doch auch erreicht", freute sich Liane für sich und fragte ihn nach langer Pause erwartungsvoll: "Na, Schatz, was denkst Du?". Worauf er zu ihrer großen Ernüchterung sinnierte: "Ich stelle mir gerade vor, wie groß Österreich sein könnte, wenn man es bügelte." |
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5 – Das Kolosseum von Rom (1961) ![]() Das Gegenstück zu Egons Verschleppung in die Berge fand am 29. Juli 1961 in Rom statt als er seinerseits Liane wichtige Stationen seiner Jugend zeigen wollte. Die beiden fuhren zwar nicht das erste Mal nach Italien, aber in der "ewigen Stadt" war er besonders in seinem Element, klimatisch, sprachlich, kulturell und kulinarisch, während Liane wegen des massiven Straßenlärms und der Abgase sich schon am Rande eines Nervenzusammenbruchs befand. Er selbst kannte Rom erstmalig von einer Reise als Kind, in einer Zeit als die Familie noch Geld hatte und Eltern, zwei Kinder einschließlich Gouvernante mit großen Schiffskoffern unterwegs waren und sich für Tage oder Wochen in einer Suite des Fünfsterne-Hotels "Regina" an der Via Vittorio Veneto standesgemäß einquartierten. Danach war er mehrmals mit Marcella in dieser ihrer Geburtsstadt, nicht zuletzt um sie dort auch zu heiraten. Wie oft er dort war, ist nicht mehr zu rekonstruieren, gesichert sind seine Besuche in Rom jedoch 1911, 1928 und 1929, also über 30 bzw. 50 Jahre davor. Später, in den Sechziger- und Siebzigerjahren, war er wenigstens noch zwei Mal in der italienischen Kapitale. Nachdem er mit Liane in brütender Hitze durch den unablässig hupenden Autoverkehr schon Stunden lang über den Quirinal und das Forum Romanum gegangen war, schlug er ihr vor – um sie zu beruhigen – gegen Abend am Stadtrand das Kolosseum zu besichtigen. Er tat dies mit einer abwinkenden Handbewegung und den Worten: "Da kommt nur ab und zu mal eine Droschke vorbei". Für diejenigen, die Rom nicht kennen, sei hinzugefügt, dass schon in dieser Zeit der Stadtrand ganz wo anders lag und das Kolosseum seine urbane Aufgabe als Insel im Kreisverkehr erfüllte: als sei es das Auge des Taifuns nahm es mit monumentaler Ruhe den tosenden Strom der Fahrzeuge in sechs Spuren auf und lenkte ihn in andere Richtungen um. Dass die Zeit nicht stehen geblieben war, registrierte er übrigens 1964 auch in Spanien, als er Liane einen ähnlichen Vorschlag machte, zur Entspannung den legendären Palmenhain von Elche aufzusuchen, der dem Ort sogar den Beinamen "Spanisches Jerusalem" eingebracht hatte. Nach längerem Herumfahren fanden sie ein Restgrüppchen von etwa einem halben Dutzend Palmen im Kreuzungsbereich verschiedener Ausfallstraßen. Seither war seine Frau äußerst skeptisch gegenüber solchen Angeboten, die gelegentlich mit den Worten eingeleitet wurden: "erst vor kurzem noch ...". Hakte man etwas nach, stellte sich oft heraus, dass Vietinghoff, der in historischen Dimensionen dachte, damit nicht selten eine Zeitspanne von 30, 50 oder sogar 100 Jahren bemaß. |
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6 – Teestunde (ca. 1965) ![]() |
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7 – Die Sonnenfinsternis (1966?) ![]() |
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8 – Der Toaster (undatiert) ![]() Natürlich hätte er es sich längst leisten können, ein modernes Gerät mit automatischem Auswurf zu erstehen, doch erstens war dieses museale Stück, das jede nostalgische Ausstellung über die Dreißigerjahre des 20. Jh. bereichert hätte, ja noch funktionstüchtig und zweitens befand seine Frau die Küche als zu klein für ein weiteres „Möbel“. Drittens waren beide dem Konsumdenken grundsätzlich abgeneigt: die Dinge wurden nicht einfach weggeworfen und neu gekauft. Schließlich lag es ja auch nicht am Gerät, denn man musste ja "nur ein bisschen" aufpassen. Diese Aufmerksamkeitsübung des Alltags hatte jedoch so manche Tücke und Vietinghoff, sonst so achtsam und konzentriert, schaffte es ausgerechnet dabei auch über Jahrzehnte nicht, diese Situation auf Anhieb zu meistern. Der prozentuale Anteil des Ungenießbaren am Ganzen hing u.a. davon ab, ob Vietinghoff im Wohnzimmer oder außerhalb der unmittelbaren Riechweite auf dem Balkon saß oder gar in die Stadt gegangen war... Und auch davon, ob er nur seinen Gedanken nachhing oder sich mittlerweile z.B. in seine Markensammlung vertieft hatte. Ungutes ahnend und aus Erfahrung klug, setzte er sich gelegentlich sogar direkt daneben, um den Röstprozess im Auge zu behalten. Die Heizdrähte brauchten anfangs länger und kritisch wurde es erst, wenn diese einige Zeit voll glühten und das Brot schon eine gewisse Trockenheit erreicht hatte. Deshalb gelang auch solcherlei Selbstüberlistung selten, denn die langweilige Wartezeit bis zum entscheidenden Punkt überbrückend überflog er wenigstens schnell mal die Zeitung – und schon fing es dicht neben ihm wieder an zu qualmen! Es war schon fatal! Kurzum, die Anhänglichkeit an diesen Oldtimer, die von seiner Witwe posthum weiter gepflegt wurde, und die Macht der Gewohnheit (selbst die der Brotverbrennung) war für Außenstehende von etwas Irrationalem umwittert. Und so wurde familienintern der Toaster im Laufe der Zeit nur noch der „Kohler“ genannt. |
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9 – In einem belgischen Restaurant (1967?) ![]() Einer sagte zum anderen: "sie sprechen Deutsch" und da Egon ihre ganze Konversation verstand, wechselten sie zu Niederländisch. Um sie zu verwirren, bestellte Egon den Kaffee auch in Niederländisch (seine Großmutter war ja Holländerin), worauf die Tischnachbarn zu Italienisch übergingen. Wir unterhielten uns weiter auf Deutsch und die beiden anderen fühlten sich nun in Sicherheit. Jedoch: Egons erste Frau war Italienerin und er hatte schon vor seiner Heirat einige Zeit in Italien gelebt. Um hinaus zu gehen, musste er von der Bank an der Wand aufstehend, sich am Tisch der anderen vorbeizwängen und sagte zu ihnen auf Italienisch: "Entschuldigung, es ist etwas schwierig, vorbei zu kommen." Da guckten die beiden recht verlegen. Es hätte ihnen auch nichts genützt, noch auf Spanisch weiter zu reden, sofern sie dieser Sprache mächtig gewesen sein sollten. Vietinghoff sprach fünf Sprachen gut und etwas Englisch, ohne sich damit zu brüsten. Er hatte in dieser Situation jedoch ein spitzbübisches Vergnügen, sein Sprachregister zu ziehen und die anderen Gäste zu verblüffen. |
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