Erinnerungen
Alle Texte dieses Kapitels sind Notizen Egon v.Vietinghoffs in Ich-Form. Die Anführungs- und Schlusseichen wurden deshalb weggelassen. Einige Sätze sind aus zwei unterschiedlichen Versionen zusammengefügt, die Wortwahl wurde dabei nicht verändert. Die Original-Orthographie wurde ebenfalls beibehalten. Anstelle von "ß" wird in der Schweiz immer "ss" geschrieben. "Masse" steht sowohl für "Maße" (cm) wie für "Masse" (kg), "Buße" (Strafe) ist nicht zu unterscheiden von "Busse" (Auto). Das "ß" wurde nach 1873 eingeführt und 1906 wieder aufgegeben, jedoch nicht konsequent. Von 1938 an wurde es in den Volksschulen nicht mehr gelehrt. Mit der Reform von 2006 wurde es im amtlichen Schriftverkehr offiziell abgeschafft. Schweizer Verlage, die für den gesamten deutschsprachigen Markt produzieren, verwenden das "ß" jedoch weiterhin. Die Texte dieser Website halten sich an diese Regelung. Vietinghoffs Manuskripte wurden auf einer Schreibmaschine mit Schweizer Tastatur getippt, auf der es kein "ß" gibt.
Redaktionelle Anmerkungen und Ergänzungen sind in Kursiv-Schrift (teils zwischen Klammern) zu lesen. |
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Erinnerungen des Egon von Vietinghoff
Für jemanden, der keine grosse schriftstellerische Begabung hat, können selbst die packendsten Erlebnisse nur in ihren äusseren nichtssagenden Konturen wiedergegeben werden. Darum sollte jeder die Finger von einer (Auto)Biographie lassen. Aus dem lebendigen Roman wird eine tote Chronik, die (jedoch) auch für denjenigen, der sie erlebt hat, mittels der Brücke des Erinnerungsvermögens interessant sein kann. Am ehesten kann der Autor den Lesern durch die Erzählung ungewöhnlicher Situationen belustigen.
(Egon v.Vietinghoff). |
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Kindheitserinnerungen
Ich bin immer viel gereist, kaum geboren balanzierte ich in einer von Holland nach Paris provisorisch eingerichteten Hängematte, die zwischen den Gepäcknetzen des Eisenbahnabteils aufgehängt war.
Als Kind war ich enttäuscht, dass das Land bei Grenzübergängen die Farbe nicht wechselte – wie es doch im Atlas vorgeschrieben war (...). Und Kopfzerbrechen machte es mir, dass der vorübergehende Schaffner Löcher in unsere Fahrkarten knipste, wusste ich doch, dass die Fahrkarte dadurch entwertet wurde und wir noch eine lange Reise vor uns hatten. |
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Mein Bruder besaß viele kleine Bärchen, die sich die sich nur durch ihre Farbe und ihre Mimik voneinander unterschieden. Er verteilte sie auf Fenstersimse, Armlehnen und Gepäcknetze, vergass aber regelmässig sie beim Umsteigen einzusammeln.
Um sie nicht ins Ungewisse weiterreisen zu lassen, musste mein Vater die Tragödie abwenden indem er zum noch nicht wieder abgefahrenen Zug rannte und die Bärchen im allerletzten Augenblick einsammelte, wobei er unseren abfahrenden Zug fast verpasste. Die Tränen in den Augen meines Bruders trieben ihn zur Eile an und die Bärchen wurden gerettet. |
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Meine Eltern waren als Menschen sehr bescheiden und hatten beide auf ihre Weise eine charakterliche Grösse, die starke ethische Wurzeln hatte. Trotzdem pflegten sie aufgrund ihrer Herkunft auf selbstverständliche Weise ihre gesellschaftlichen Beziehungen.
Sie waren hilfsbereit und brachten in ihrem Haus Künstler und andere kultivierte Menschen zusammen oder gaben manchmal Hauskonzerte. Sie hatten eine ungewöhnliche Ausstrahlung und wurden, solange meine Mutter gesund war, deshalb gerne zu Empfängen eingeladen. |
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Einmal waren sie in Wiesbaden (wo wir von 1907-1913 wohnten) Gäste bei einem Essen mit dem Kaiser, bei dem auch mein kleiner Bruder und ich dabeisein durften. Wilhelm II besuchte die Kurstadt öfter, so dass wir als Kinder die für ihn stattfindenden Paraden sahen. Alexis war vielleicht 6 Jahre alt und sein Gaumen schätzte die Raffinements des kaiserlichen Banketts noch nicht so recht. Verwirrt von der Fülle wohlklingender Speisen, das Gewohnte aber vermissend, platzte er kindlich empört und erschreckend laut mit der Feststellung heraus: "Und nicht einmal Käse gibt es hier!". Der Kaiser wird es nicht gehört haben, denn es gab mehrere Tische und die Tafeln waren sehr lange...
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Schulzeit 1916-1919
Lyceum Alpinum Zuoz
Swiss International Boarding School Am Samstag Abend wurden die Differenzen zwischen den Schülern ausgetragen, die während der Woche genau verzeichnet worden waren. Da es mir unangenehm war zuzusehen wie bei Prügeleien die Kleineren von den Grösseren misshandelt wurden und ich manchmal eingeschritten war, hatte ich einige der grösseren Schläger gegen mich und musste an diesen Samstagen manche Quälerei überstehen. Die Stunde der Abrechnung hat wohl dazu beigetragen, dass ich auf Wunsch meiner Eltern von einem Internen zu einem Externen überwechselte, was meine Lage beträchtlich verbesserte. Ich wohnte nun bei einer Familie, die oberhalb des Lyceums ein Haus besass. |
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In diesem Haus wohnten einige Schüler des Lyceums und eine sehr hübsche, aber erwachsene Rheinländerin. Ich bewunderte ihren hellen durchsichtigen Teint und es ärgerte mich noch nicht erwachsen zu sein. Ein zu grosser Unterschied zwischen Alter und hormonaler Entwicklung kann schmerzliche Folgen haben, weil Euphorie eines Frühreifen wie auch eines greisen Liebenden nicht honoriert wird, während das Gewicht, das dem Alter beigemessen wird, vom Beteiligten selbst übersehen wird. Glücklicherweise war ich so in Anspruch genommen mit anderen Schülern zusammen eine Rutschbahn aus zu bauen, die uns in Sekunden zum Lyceum bringen sollte, dass mir wenig Musse blieb, meinem Liebeskummer nachzuhängen.
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Eine nicht alltägliche Begebenheit war eine kurze Anstellung eines Lehrers, der wegen einer tiefen Narbe quer über den Schädel Aufmerksamkeit erweckte. Als er meinen Namen hörte schien er unsicher zu werden und behandelte mich wie ein rohes Ei. Als ich meinen Eltern seinen Namen nannte, erschraken sie: die Narbe stammte von einem Schwerthieb (nach anderer Überlieferung vom Schürhaken aus dem Kamin), den ihm mein Grossvater (Arnold Julius v.Vietinghoff) während der ersten Revolutionszeit 1905 in Russland (aus Notwehr) versetzt hatte, (da jener drohte, ihn umzubringen). Er hatte sich in der Zwischenzeit vom Anführer (einer Schar von Revolutionären) zum Schullehrer gewandelt (und war wegen der Ereignisse und Wirren in den baltischen Provinzen ebenfalls in die Schweiz ausgewandert).
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Zürich
Ein Lehrer verwies mich der Klasse und lies mich auf dem Gang die nächste Unterrichtsstunde abwarten. Ich weiss bis heute nicht, warum die Art, wie ich diese Demütigung aufnahm mir den Respekt meiner Mitschüler und ein fast freundschaftliches Verhältnis zum Mathematiklehrer eintrugen. Er lud mich später oft zu sich ein und kaufte mir später, als ich Maler geworden war, Bilder ab. Die Mathematik ist mir aber immer ein Rätsel mit sieben Siegeln geblieben. Im Zeichnen war ich schlecht, denn die gestellten Aufgaben langweilten mich. Einmal wurde ich vom Zeichenlehrer sogar als "Dummkopf" betitelt, weil ich mich nicht an seine Anweisungen hielt. |
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Marocco 1921
A. (der Mitreisende) war ein sonderbarer Mensch; ich hatte ihn sehr gern, aber sein Charakter war düster. Nach dieser sonderbaren und plötzlichen Trennung (in Spanien, s. Unterkapitel "Anekdoten") dachte ich nicht mehr an den Kongo (als vorläufiges Reiseziel in Richtung Java!), aber die Wanderlust trieb mich weiter und ich beschloss nach Marocco zu fahren. Bald hatte ich einen kleinen Frachtdampfer aufgetrieben, dessen Kapitän sich für ein paar Batzen bereit erklärte, mich bis Ceuta mitfahren zu lassen. Als ich am Abend aufs Schiff kam, sassen schon mehrere fragwürdige Gestalten auf Deck, die anscheinend auch den Gedanken gehabt hatten, die Meerenge auf diese billige Art zu überqueren. Sie lagerten in ein Würfelspiel vertieft auf den gestapelten Kisten. Ich setzte mich an den Bug. Die letzten Ladungen wurden an Bord gebracht und der Lohn den Hafenarbeitern ausgezahlt.
(Von den Vietinghoffs bekannten Sprachen entspricht die Schreibweise "Marocco" nur dem Italienischen. Im Wechsel zwischen hauptsächlich 4 Sprachen, war seine Orthographie gelegentlich nicht so präzise). |
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Nachdem alle, die nicht mitfuhren, das Schiff verlassen hatten, begann an Bord die emsige, stille und gewohnte Arbeit, die mir immer den gleichen Eindruck gegeben hatte (...) wenn ich, etwas früh ins Theater gekommen, sich langsam die Plätze füllten und der feierliche Augenblick des Vorhangöffnens immer näher rückte. Bald würden die Lichter erlöschen und hinter dem schweren Stoff würde sich eine fantastische Welt eröffnen. Das kleine Loch, hinter dem man ab und zu ein Auge gewahrte, und der dünne Schein, welcher hindurchdrang, liessen nicht einmal auf die Farbe des Lichts schliessen, welches die Bühne erleuchten würde. Welch ein schönes Gefühl vor diesem grossen Geheimnis zu sitzen und die Sicherheit zu haben, dass der Augenblick, dass es sich enthüllen würde, unabwendbar war und immer näher rückte!
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Das Schiff löste sich langsam vom Quai, die Taue, welche es festgehalten hatten, verlängerten sich, ihre Enden klatschten ins Wasser, und wurden dann sorgfältig in kunstvollen Bögen übereinander gerollt.
Gleichmässig hämmerte die Schiffsmaschine in die Nacht hinein während einige Delphine in mächtigen Sätzen (...) spielend uns noch lange begleiteten. |
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Ich hatte mich (...) in die schillernde Sternenwelt verloren als ein alter Araber, den ich (...) unter den spielenden Gesellen gesehen hatte, sich zu mir setzte und fragte, ob ich wisse wie man die Zeit nach der Stellung der Sterne erkennen könne; als ich verneinte, zeigte er es mir, frug, was ich in Marocco vorhätte und entsetzte sich väterlich spöttelnd als er erfuhr, dass ich alleine in einem Lande herumwandern wolle, das sich im Kriegszustande befand.
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Es war im Jahre 1920 und der Rifkrieg hatte seinen Höhepunkt ereicht. Eindringlich schilderte er mir die Zustände, den Hass der Araber auf jeden Europäer, und er weissagte mir, dass mir schon am ersten Tage der Hals durchgeschnitten oder ich für immer in einen der vielen Türme verschwinden würde, welche die Hügel dieses gastlichen Landes krönen. Er sprach ruhig und sachlich; ich konnte weder über das Wohlgemeintsein noch über die Wahrheit seiner Rede Zweifel hegen und so sah ich mich vor der unangenehmen Aussicht entweder in Ceuta einen Dampfer für die Rückfahrt zu suchen oder meine Abenteuerlust teuer zu bezahlen.
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Ich war ratlos; da schlug mir mein väterlicher Araber vor mit ihm das Land zu bereisen. Er musste mehrere kleinere Dörfer besuchen (warum, habe ich nie erfahren) und wollte mich unter zwei Bedingungen mitnehmen. Erstens sollte ich in Ceuta arabische Kleider anziehen um nicht schon von weitem als Europäer gekennzeichnet zu sein und zweitens die Anfangsverse des Korans auswendig lernen um mir die arabischen Gemüter günstig zu stimmen. Natürlich sagte ich freudig zu, übte die ganze Nacht an den komplizierten Kehllauten der arabischen Sprache. Es hat mir später immer leid getan, dass ich keine Gelegenheit mehr hatte sie weiter zu üben, denn die Schönheit der grosszügigen, herben Verse des Korans, die mir mein Begleiter im Laufe unseres Zusammenseins immer wieder mit Ehrfurcht vortrug, begeisterten mich bald. Auch in Ceuta, wo wir zwei Tage Quartier bezogen hatten, übte ich fleissig und mit Engelsgeduld korrigierte mich mein bärtiger Berber.
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Schon war der Vorhang halb geöffnet. Auf eine unbekannte, bunte, grelle, herbe Welt. Auf kleinen Eseln ritten grosse, hagere Gestalten. Der Burnus bedeckte sie ganz. Die nackten Beine hingen an den Seiten des Esels herunter, die Zehen steckten in riesigen platten Pantoffeln, deren hinterer Teil lässig den Boden streifte. Begegneten sie einander berührten sie einander erst stumm die Stirne und führten die Hand zum Munde. Dann begannen sie wild aufeinander loszureden. Die Stimmen schlugen andauernd über; rollende und geflüsterte, wechselten mit gehauchten, gequetschten oder geriebenen Kehllauten ab und gaben einen dumpfen, mannigfaltigen Grundton für die spärlichen, aber schrillen Vokale. So war auch ihre Musik. Wie die Stimme aus der bösen geheimnisvollen Wüstenwelt zog sie unter meinem Fenster vorbei. Dumpfe, synkopierte Trommelschläge über denen kleine Flöten und Dudelsäcke ihr schillerndes, lautes und doch unendlich nuanciertes Spiel trieben. Ein Spiel, das nie aufhören konnte ...
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Paris 1923-1933
Freunde, "Freunde" und Kollegen
Weil mein Atelier sehr gross war, galt ich als wohlhabend (unter den Blinden ist der Einäugige König) und wurde weidlich ausgenützt. Eines nachts klopfte mich ein peruanischer Bekannter aus dem Schlaf. Er war ein Inkaprinz und seine Frau Tänzerin. Nachdem ich ihn eingelassen hatte, lief er mit suchendem Blick im Atelier herum. Auf meine Frage, was er wolle, antwortete er, er suche ein Tischchen um es zu verbrennen, sie hätten kein Heizmaterial mehr zu Hause. Die Erfahrungen mit Kollegen waren aber nicht immer so spassig wie diese. Neidern ist jedes Mittel recht, sich auf Kosten des Beneideten Vorteile zu verschaffen. Einer borgte sich für ein paar Stunden meinen Staubsauger aus, den ich nie wieder sah. Ein zweiter, unterdessen sehr kotierter** (dotierter) Maler, brachte es fertig, meinen grossen Perserteppich unter dem Vorwand zu verkaufen, er wolle ihn zu einem ihm bekannten Teppichreiniger bringen. ** Vietinghoff bedient sich eines aus dem Französischen kommenden Wortes der Börsensprache: fr. coter = Kurse (Preise) notieren, dt. kotieren = Wertpapier an der Börse zulassen. Dies zeigt einerseits wie selbstverständlich er zwischen beiden Sprachen hin und her wechselte und ist andererseits auch Ausdruck seiner Beobachtung, dass mit den Werken vieler Künstler wie mit Aktien spekuliert wird, und zwar – unabhängig von ihrem Gehalt – vor allem auf materiellen Gewinn hin orientiert. Einem anderen hatte ich monatelang Unterkunft gegeben, weil ihm sein Atelier gekündigt worden war. Nachdem er endlich abgezogen war, fehlten lauter Dinge, die er wohl dringlicher als ich zu brauchen glaubte. Von den Darlehen, die ich gutgläubig an einige im Anpumpen geschulte Kollegen machte, erhielt ich keines mehr zurück. Nach solchen Erfahrungen ist mir von der unter Künstlern herrschenden Kollegialität keine erhabene Meinung geblieben. |
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Dabei war ich gar nicht so wohlhabend wie manche Kollegen glaubten. Es gab Engpässe, die so eng waren, dass ich ihnen meine Gürtelweite anpassen musste. An so einem Engpass suchte ich eine Art Volksküche für Intellektuelle auf. Sie hatte den Namen eines großen Dichters.
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Die Wände waren über und über mit Reklamen bedeckt, durch die Firmen den Idealismus priesen, mit dem sie ihre Nudeln, ihre Bohnen oder ihr Pflaumenmus der werdenden geistigen Elite Frankreichs grossmütig zur Verfügung stellten ("gracieusement mis à la disposition de ..." hiess die Formel).
An langen Tischen sass die hungrige Elite. Dazwischen standen zwei Rausschmeisser, die misstrauisch die Anzahl der Gabeln und Messer abschätzten. Jedesmal wenn ich das Intellektuellenlokal verliess, war ich voller Flöhe. Im Atelier fand ich einen Zerstäuber und einen Rest Insektenvertilgungsflüssigkeit, die ich mir unter die Jacke spritzte, bevor ich die Literatenküche wieder betrat. Zu meinem Erstaunen rückte die ganze geistige Elite von mir ab und hinterliess gähnende Leere um mich herum. Offensichtlich waren ihre gerümpften Nasen sprayempfindlich. |
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