Jeanne von Vietinghoff, die Mutter
Vielleicht sollte man in der Frage der Beziehung zwischen Jeanne de V. und Michel de C. ein Zitat von André Fraigneau in die Überlegungen miteinbeziehen, der über Marguerite Yourcenar sagte: Und dann besaß sie diese Angewohnheit, angeblich immer zu wissen, dass diese Person und jene Person ein Verhältnis miteinander hätten, auch wenn es sich nur um eine Freundschaft handelte. Das interessierte sie sehr. (Aus Dietrich Gronaus Biographie, S.76, s.u.). |
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Alexis von Vietinghoff (1904-1942) – Nachwort
Der zweite Sohn von Conrad und Jeanne war ein sensibles Kind, das neben seinem vitalen, erstgeborenen Bruder vermutlich keinen leichten Stand hatte. Egon war sowohl äußerlich als von der inneren Verbundenheit her eindeutig das Kind der Mutter, während Alexis wohl eher nach dem Vater schlug. Über Alexis lag der Schatten mentaler Verwirrung, derentwegen er einen beträchtlichen Teil seines eher kurzen Lebens unverheiratet, zuerst in privater Betreuung, dann in einer psychiatrischen Klinik verbrachte und dort als Gärtner arbeitete. Wir wissen nicht, ob seine Erkrankung eine körperliche Ursache hatte oder aufgrund seiner Stellung in einer schwierigen Familienkonstellation psychischer Natur war. Bei seinem Tod lehnte sein Vater eine Autopsie ab. Etwa 60 Jahre danach ergab eine Nachfrage, dass keine Krankenakten vorhanden sind – nicht auffindbar gegen alle Regeln einer Klinik der Kantons Zürichs.
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Nachruf auf Jeanne de Vietinghoff
Von Hélène Naville-Marion, Genf, 6. November 1926.
Deutsche Übersetzung: Alexander von Vietinghoff und Hélène Räber. [ In eckigen Klammern stehen Ergänzungen der Übersetzer ]. |
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Jeanne de Vietinghoff ist am 31. Dezember 1875 in Brüssel geboren. Sie war nur 18 Monate alt als ihr Vater starb. Ihre Mutter, Madame Bricou, geb. Storm de Grave, eine gebürtige Holländerin, schenkte ihrer Tochter alles, was ihr Herz an Zuneigung zu geben hatte: sie [Jeanne] war ihr Trost in der großen Trauer und ihr galt ihre ganze Fürsorge. Jeanne wurde immer mit größter Zuwendung bedacht und auf ihre Erziehung wurde besonders viel Sorgfalt verwendet.
Im Winter wohnte sie in der Stadt, im Sommer auf dem Lande, was ihr ganz besonders gefiel. Ihre Liebe zur Natur, die ihr später Freundin und Inspiration war, geht auf ihre Jugendjahre zurück und zweifellos auf diese ersten Berührungen mit ihr. Sie war ein nachdenkliches, lern- und wissbegieriges Kind mit tiefen Gefühlen. |
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Obwohl sie aus einem wohlhabenden sozialen Umfeld kam, das man zu Recht mondän nennen kann, wurde Jeanne in eine katholische Klosterschule in [nahe] Brüssel geschickt, die sie brillant abschloss. Auch wenn sie als Protestantin die Atmosphäre der Abgeschiedenheit und die Harmonie dieses Instituts schätzte, war ihr Geist doch schon unabhängig genug, um dem Einfluss nicht zu erliegen. Sie blieb der Konfession treu, in der sie [zu Hause] erzogen wurde. Es war Pastor Meyhoffer, dem das Privileg zuteil wurde, sie religiös zu unterrichten und in die Kirche aufzunehmen.
Kaum 17 Jahre alt, eine schöne junge Frau, nachdenklich und suchend, trat Jeanne in die Gesellschaft ein, von der sie mit Begeisterung empfangen wurde. Ihr frühreifer und brillanter Geist hatte schon alles hinter sich gelassen, was man ihn gelehrt hatte. Mit ihrem außergewöhnlichen Charme, den ihre ganze Person und ihre Wesensart verströmten, übte sie auf ihre Umgebung eine unwiderstehliche Anziehung aus. Sie war lebhaft, wohlwollend, liebenswürdig; sie liebte es, sich zu unterhalten und Ideen auszutauschen. |
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Der Graf Sten de Lewenhaupt lernte sie kennen, verlor sein Herz an sie und bat um ihre Hand. Die Hochzeit wurde wegen des so jugendlichen Alters der Braut vertagt. Während der vorsichtshalber auferlegten Wartefrist verschlechterte sich des Grafen Gesundheit so schwerwiegend, dass er in eine Klinik eingewiesen werden musste. Eine Geisteskrankheit hatte sich seiner bemächtigt.
Jeannes Schmerz und Verzweiflung waren unermesslich, doch versuchte sie diese mit der Tapferkeit zu bekämpfen und zu überwinden, die sie auch später immer bewiesen hat. Überzeugt, durch die Macht inständiger Bitten die Gesundheit ihres Bräutigams von Gott wiederzuerlangen, betete sie für ihn Jahre lang mit Ausdauer, Inbrunst und ihrer ganzen Liebe. Doch das Wunder trat nicht ein. Dass sie dabei ihren Glauben nicht verlor, war zweifelsfrei ihre erste Erfahrung, die – zusammen mit vielen weiteren in der Folge – die Natur ihrer religiösen Gefühle veränderte. |
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Lange Zeit danach begegnete sie in Dresden Baron v.Vietinghoff in einer Gesellschaft mit hohem moralischem und intellektuellem Niveau, wo man sich fast ausschließlich mit den ernstesten Fragen und Problemen beschäftigte. Der Baron selbst hatte eine Jugend mit Kummer und Schwierigkeiten durchlebt. Instinktive Sympathie führte sie zueinander. Sie vertrauten sich ihr Leid mit vollständiger Offenheit an: ihre Enttäuschungen, ihre Sehnsüchte, ihre Lebenseindrücke und Lebensziele. Sie beschlossen ihr Dasein zu vereinen, um gemeinsam an Erleichterungen und an Verbesserungen für die Menschheit zu arbeiten, und damit ein Glück ohne Egoismus anzustreben, das nicht nur auf der Suche nach Freude allein wäre. Die Hochzeit wurde 1902 in Den Haag gefeiert.
Die Kenntnis mehrerer Sprachen sowie viele Reisen nach Frankreich, Deutschland, Livland, Italien und in die Schweiz trugen zur wunderbaren Entwicklung der jungen Dame bei. Intelligent, aufgeschlossen und schön, von wohlwollender Güte, grenzenloser Geduld und hoher Sensibilität, war sie überall sehr beliebt, von vielen aufgesucht und bewundert. Die vollkommene Bescheidenheit, die sie niemals verlor und die eine ihrer markantesten Charakterzüge waren, bewahrte sie vor Überheblichkeit. |
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In Wiesbaden schrieb sie ihr erstes Buch Impression d’Ame [Eindrücke einer Seele], das 1909 erschien. Sie waren nach einer schweren Krankheit ihres Mannes dorthin gezogen, den sie mit größter Hingabe gepflegt hatte, um sich zu erholen. Sie hatten dort viele Freunde und die Luft war für den Rekonvaleszenten und ihre Söhne – sehr sensible Kinder – gesünder als in Paris, wo sie vorher wohnten.
Dieser erste Essay enthüllte die große spirituelle Entwicklung der Autorin, die Treffsicherheit und die Eigenständigkeit ihres Denkens, ihre Beobachtungsgabe und die Güte ihres Herzens. Er wurde gut aufgenommen vom Publikum und von der Kritik, die sich ausgesprochen zustimmend äußerte. Durch einen Erfolg ermutigt, mit dem sie in ihrer extremen Bescheidenheit vielleicht nicht gerechnet hatte, ließ Jeanne v.Vietinghoff 1913 ihr Buch La Liberté Intérieure ["Die innere Freiheit"] erscheinen, ohne Zweifel das schönste ihrer Werke. Es zeigt einen sehr großen Schritt nach vorne an. Jeanne v.Vietinghoff begnügt sich nicht mehr mit dem Blick auf ihre Umgebung oder damit, zu beobachten und Eindrücke zu empfangen, aus denen sie bildhaft ihre Lehren zieht. Mit dem zunehmend intensiven Wunsch nach Freiheit fühlte sie, dass diese durch wiederholte Siege über sich selbst vor allem in sich selber gesucht werden müsste und – nachdem man sie erworben hat – sie nur für das Gute, das Schöne und Wahre einsetzen sollte. Sie gab uns die Mittel, sie [die Freiheit] uns anzueignen. |
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L'Intelligence du Bien erschien 1915 (wieder in Paris, deutsche Übersetzung 1919 Die Weisheit des Guten, englisch 1921, niederländisch 1924). Diese drei ersten Bücher gehören zu denen, die es wert sind, gelesen und nochmals gelesen zu werden. Für Geister, denen sie vertraut sind, bilden sie den Grundstock einer Lieblingslektüre, aus der man Kraft und Hilfe in schweren Stunden schöpfen kann.
Jeanne v.Vietinghoff veröffentlichte 1923 den Roman L'Autre Devoir [Die andere Pflicht, Edition Forum, Genf], wo man eine breit dargestellte und sozusagen mit Fakten illustrierte These findet, die ihr sehr kostbar war: Jedes menschliche Wesen hat nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, das Maximum der ihm möglichen intellektuellen, moralischen und physischen Entwicklung zu erreichen, und sich auf dieses Ziel hin des ganzen Glücks zu vergewissern, das angestrebt werden kann ohne das der anderen zu beeinträchtigen. Nach vergeblichen Versuchen, sich an ihr Schicksal zu gewöhnen, verzichtet die Hauptfigur auf ein Leben, das sie in ihrer Beschränktheit gefangen hält, und beginnt sich zu emanzipieren. Nach großen Freuden stößt sie auf noch größere Enttäuschungen und kehrt resigniert in das von ihr verlassene Heim zurück, um sich ihm – überzeugt von der Relativität der Dinge – mit bereicherter Seele zu widmen. Au Seuil d'un Monde Nouveau [An der Schwelle zu einer neuen Welt] ist ein noch beachtlicheres Werk als die voran gegangenen. Die Erschütterung der Welt nach dem Ersten Weltkrieg inspirierte sie dazu, es erschien 1921. Angesichts des irreparabel erscheinenden moralischen und materiellen Desasters suchte Jeanne v.Vietinghoff Themen der Hoffnung, der inneren Erneuerung, der Neugestaltung und appellierte an die großen Werte der Menschheit: Würde, Mut, Brüderlichkeit und guten Willen. Sie erarbeitete [auf diese Weise] mit spirituellem Bemühen ein großherziges Projekt als Hilfe zum Wiederaufbau aus den Trümmern. Dieses Buch widmete sie ihren zwei Söhnen. Ihnen beiden war sie eine in ihrer Zuneigung und Fürsorge rührende Mutter. Trotz der Arbeit, der Reisen, der Freunde und der ständig wachsenden Zahl von Bewunderern, die ihr Haus belagerten, kümmerte sie sich um sie, umsorgte sie und passte auf sie auf, kurzum sie zog sie auf. Ihre beste Handlungsweise war das Vorbild, das sie ihren Söhnen gab. Sie hatte immer Verständnis für sie und sie hatten keine Geheimnisse vor ihr. Niemals behinderte sie deren Entwicklung oder die Freiheit ihres Glaubens oder ihres Lebens. Die Übereinstimmung zwischen ihnen war so vollkommen, dass sie sich ohne Worte verstanden. |
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Seit langem fühlte sie sich müde und leidend, als sich im Laufe des Herbstes 1925 die ersten Symptome der Krankheit manifestierten, die sie aus ihrer vollen Lebenskraft dahinraffte. Sie arbeitete an einem neuen Band mit einer Sammlung von Gedanken, den sie nicht mehr beenden konnte und dessen einzelne Blätter von ihren Angehörigen pietätvoll gesammelt wurden. Diese wahrhaft edle Frau zeigt sich in den auf diese kurze Einführung hier folgenden Seiten als immer aufrichtiger, mutiger und souveräner. Sie ist dabei überaus zärtlich, aber auch voll schmerzlicher Ironie. Es finden sich darin bewundernswerte Landschaftsbeschreibungen, die in wenigen Zeilen ein Bild erzeugen, sowie das Streben nach Idealen und gedankliche Höhenflüge, aus denen man die Nähe der Autorin zur Vollkommenheit spürt.
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Nach einigen Monaten Krankheit ohne irgendeine Besserung forderte Jeanne v. Vietinghoff von den sie pflegenden Ärzten die Wahrheit über ihren Gesundheitszustand. Angesichts ihrer Beharrlichkeit gestanden sie ihr, dass sie allenfalls noch durch ein Wunder geheilt werden könnte. Sie nahm das Urteil heldenhaft an. Bewahrte sie sich möglicherweise im Stillen eine ferne Hoffnung auf Rettung, die ihr half viele Monate des Leidens und selbst die Agonie ohne Willensschwäche durchzustehen? Vielleicht schöpfte sie bloß ihre eigene bewundernswürdige Stärke aus, ihre Tapferkeit und ihre Gelassenheit, die sie in dieser tragischen Situation bewies. Der Tod nahm sie langsam und viel zu früh zu sich, ein grausamer Tod, mit dem sie sich in Sanftmut abgefunden hatte. Sie konnte kaum noch sprechen als ihre tiefen Augen und ihre weißen und schwachen Hände, die zum Streicheln gemacht waren, noch ihre Liebe und ihre Zuversicht ausdrückten denen gegenüber, die sie liebte und denen das schmerzliche Privileg zuteil wurde, ihr beizustehen.
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Das Bemerkenswerteste an Jeanne v.Vietinghoff sind weder ihr Talent noch ihre Fähigkeiten, von denen sie einige wunderbare besaß, sondern die Anziehungskraft und der Einfluss, den sie auf alle ausübte, die sich ihr näherten und sich nach intellektueller und moralischer Weiterentwicklung sehnten. Sie vermittelte ihnen die Kraft in ihrer Spur zu gehen, sie bahnte ihnen den Weg. "Sie verstand es, über ihre realen literarischen Gaben die edlen Gefühle auszudrücken, die sie bewegten und eine Elite daran Anteil haben zu lassen. Sie war die Seele einer großen Zahl von Zeitgenossen – ihr Werk wird bestehen bleiben."
Gesegnet sind, die – wie sie – die Zustimmung zum Guten, die Liebe zur Arbeit und den Wunsch nach Fortschritt für sich selbst sowie für alle anderen in die Welt gebracht haben. |
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Bibliographie
• Biographien über Marguerite Yourcenar
• Jeanne de Vietinghoffs Bücher • Das Buch von Christine Mary McGinley • Andere Publikationen |
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Biographien über Marguerite Yourcenar
Biographien über Marguerite Yourcenar sind nicht denkbar ohne Reflexionen und Recherchen über Conrad und Jeanne, die Eltern des Malers Egon von Vietinghoff. Deshalb sind hier auch einige Biographien aufgelistet, in denen sie erwähnt werden. Josyane Savigneau, (Französisch, Original): Marguerite Yourcenar – L'invention d'une vie, Gallimard, Paris, 1990 ## Deutsch: Marguerite Yourcenar – Die Erfindung eines Lebens, Carl Hanser, München 1993 und Frankfurt a.M. 1996 Fischer TB 12559 und 1997 Fischer TB 13558 ## Englisch; Marguerite Yourcenar: Inventing a Life ## Spanisch: La invención de una vida Michèle Goslar, (Französisch, Original): Yourcenar – Qu'il eût été fade d'être heureux, Éditions Racine et Académie royale de langue et littérature françaises, Bruxelles, 1998 ## Italienisch: Yourcenar – Sarebbe stato insipido essere felice, Apeiron Editori, Roma 2002 ## Spanisch: Marguerite Yourcenar – Qué aburrido hubiera sido ser feliz, Paidós Testimonios, 2002 Michèle Sarde (Französisch, Original): Vous, Marguerite Yourcenar, La Passion et ses masques, Laffont, Paris, 1995 Georges Rousseau (Englisch, Original): Yourcenar, Life & Times, London, Haus Publishing, 2004 Dietrich Gronau (Deutsch, Original): Marguerite Yourcenar – Wanderin im Labyrinth der Welt, München 1992, Heyne Biographien TB 225 Michèle Goslar, Marguerite Yourcenar et les von Vietinghoff, Publication CIDMY, Bulletin no. 18, ISBN 2-9600248-9-3 |
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Jeanne de Vietinghoffs Bücher
Sie schrieb auf Französisch und ihre Schriften erschienen unter diesem Namen ("de" statt "von"). |
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Originaltitel (französisch)
1) Impressions d'Ame (Eindrücke einer Seele), Librairie Fischbacher, Paris, 1909 (4 Auflagen) 2) La Liberté intérieure (Die innere Freiheit), Librairie Fischbacher, Paris, 1912 (8. Auflage 1925) 3) L'Intelligence du Bien(Die Weisheit des Guten), Librairie Fischbacher, Paris, 1915 (8 Auflagen) 4) Au Seuil d'un Monde Nouveau (An der Schwelle zu einer neuen Welt), Librairie Fischbacher, Paris, 1921 (2. Auflage 1923) 5) L'autre Devoir – Histoire d'une âme (Die andere Pflicht – Geschichte einer Seele), Editions Forum, Genève, 1924 6) Sur l'Art de vivre (Über die Kunst zu leben), Librairie Fischbacher Paris, 1927 (posthum) |
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Deutsche Übersetzung
Die Weisheit des Guten, Rascher Verlag Zürich, 1919 |
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Englische Übersetzung
The Understanding of Good (Thoughts on Some of Life's Higher Issues), John Lane Company, London and New York, 1921 The Understanding of Good (Thoughts on Some of Life's Higher Issues), Neudruck mit Einleitung von Christine Mary McGinley, Gleam of Light Press, LLC, Lakeland, Michigan, USA, 2016 |
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Niederländische Übersetzung
De Wijsheid van het Hart, Ploegsma, Zeist, 1924 |
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