Jeanne von Vietinghoff, die Mutter
Die Schriftstellerin Yourcenar, obgleich etwas kursichtig, mochte keine Brille tragen. Und der Maler Vietinghoff versetzte sich in einen meditativen Zustand und kniff seinerseits die Augen zusammen, damit die Gesamtschau auf das Wesentliche nicht durch übergenaue Details abgelenkt würde. Beiden ging es nicht darum, äußere Tatsachen zu beschreiben, sondern ihr Publikum an ihrer inneren Schau zu beteiligen.
Paradoxerweise bringt Yourcenars Verschleiern und Variieren von Tatsachen eine neue Ebene der Wahrheit hervor. Das unscharfe Fokussieren der Realität befähigt zu einer Schau des Wesentlichen. Verborgene innere Wahrheiten treten zu Tage, wenn die formale Richtigkeit nicht zwanghaft eingehalten wird; andernfalls wäre das Eigentliche vom Formalen dominiert, eingeschlossen, gefangen. Marguerite Yourcenar besuchte Egon 1986 in Zürich, sein Atelier und eine Ausstellung seiner Gemälde in Küsnacht. Er schenkte ihr ein Bild mit zwei Pfirsichen, das sie in ihr Haus "Petite Plaisance" in Maine (USA) mitnahm und noch heute dort zu sehen ist. Das Haus auf Mont Desert Island ist eine Gedenkstätte, ein kleines Museum. |
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Anmerkung und Korrektur zu Liebesläufe (Fischer TB S.108)
Zitat in der Übersetzung von Rolf und Hedda Soellner Die beiden anderen (das Kind Marguerite und das Kind Egon) hingegen haben einen langen Weg vor sich. Gegen Ende des Parcours blicken sie gemeinsam einen Augenblick zurück (anlässlich ihrer Begegnungen 1984 und 1986), sie versuchen, schlecht und recht ihre wenigen Erinnerungen an die vorhergegangene Generation zu ergänzen, aber es geht ihnen wie allen Söhnen und allen Töchtern, die sich bemühen, das Charakterbild der Eltern zu erfassen, irgendetwas rinnt ihnen immer durch die Finger, wie Sand, verliert sich im Unerklärbaren. 'Wie schade Marguerite, dass wir uns nicht wiedergesehen und einander mit zwanzig geheiratet haben!' 'Auf Ihre erst Heirat, Clément (Egon v.V.) folgte sehr schnell eine Aufsehen erregende Scheidung, und drei von vier weiteren sind, wie Sie mir selbst sagten, auch nicht besser ausgegangen. Es ist zweifelhaft, ob die unsrige erfolgreicher gewesen wäre. Für den Maler, den realen Egon v.V. ist typisch, dass er sich ausschließlich und leidenschaftlich für Frauen begeisterte und immer gleich heiraten wollte (sofern er nicht gerade verheiratet war). M.Y. hat jedoch absolut recht, denn die beiden so starken Persönlichkeiten wären bestimmt nicht lange zusammen geblieben – unabhängig von ihrer Homosexualität. Sie verstanden sich auf weltanschaulicher sowie künstlerischer Ebene und beide reisten gerne. Für beide war seine Mutter, Jeanne von Vietinghoff, ein Idol, beide hatten einen aristokratischen Hintergrund und beide hatten in bestem Französisch eine gemeinsame Sprache. Aber ein Eheleben als Mann und Frau im Alltag wäre mit Sicherheit gescheitert. M.Y. schrieb diese Zeilen bald nach der Begegnung mit Egon und trotzdem fallen "Ungenauigkeiten" auf, deren Ursache kaum auf Gedächtnislücken zurückzuführen ist; es sind offensichtlich bewusste Veränderungen. Warum? Fabulierdrang, damit es noch dramatischer klingt als es teilweise ohnehin war? Egons erste Ehe dauerte mit Unterbrechungen 10 Jahre, die zweite Ehe war kürzer und die dritte tatsächlich sehr kurz. Außerdem war er vier und nicht fünf Mal verheiratet, wobei seine letzte Ehe 40 Jahre hielt, nämlich bis zu seinem Tod. |
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Conrad v.Vietinghoff und Marguerite Yourcenar
Conrad, der Vater des Malers, inspiriert Marguerite Yourcenar zur der sehr frei gestalteten Figur ihres ersten Romans Alexis oder der vergebliche Kampf und (nur im vagen Ansatz) zur Thematik von Der Fangschuss.
Aber Achtung: Marguerite Yourcenar war eine Meisterin im Verwischen eigener Spuren und in der Synthese von Dichtung und inneren Wahrheiten! Selbst Biographen fallen immer wieder darauf herein und nehmen die in den Romanen beschriebenen Eigenschaften der Vietinghoffs für bare Münze. Sie verarbeitet stets ihre eigene Thematik subtil in den Figuren ihrer Werke. So ist besonders über Conrad immer wieder Falsches zu lesen, sowohl in Bezug auf seinen Beruf und seine biographische Daten als auch auf seine Vorlieben und sein Verhalten. Marguerite Yourcenar ist Jeanne zwar nur wenige Male begegnet, hat von ihrem Vater (Michel de Crayencour) aber wohl einiges mehr über sie als über Conrad gehört – jedoch was genau? Einerseits hat sie von ihr deshalb ein plastischeres und realeres Bild als von ihm, andererseits bietet sich ihr Conrad gerade wegen der nur skizzenhaften Eindrücke, die Marguerite von ihm hat, als besonders gute Projektionsfigur ihrer eigenen Gefühle an. Sie ergänzt ihn, wie sie sich ihn vorstellt oder wie sie ihn für ihre Romane brauchen kann. |
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Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass sie ihn mit größter Wahrscheinlichkeit in Zürich aufsuchte, ein Jahr nach dem Tode Jeannes und 1-2 Tage bevor sie den Alexis zu schreiben begann mit der von Conrad inspirierten Romanfigur "Alexis von Gera". Zuvor war sie zu Jeannes Grab in Pully bei Lausanne gepilgert und mag in der Hoffnung nach Zürich gereist sein, von Conrad noch mehr über sie zu erfahren. Marguerite wusste von Conrads Neigung zu Männern aus wenigstens einem Gespräch mit ihrem Vater. Auch hier stellt sich die Frage: Wie viel?
Sie wusste auch, dass ihr Vater für Jeanne Liebe und Verehrung empfunden hatte. Der Grund für einen Besuch in Zürich muss jedoch nicht unbedingt das Sammeln von Material gewesen sein, mit der festen Absicht, einen ersten Roman zu schreiben. Bis zu diesem Zeitpunkt waren Jeanne und Conrad noch kein literarischer Stoff für Marguerite Yourcenar, sondern eher eine vage Erinnerung aus ihrer Kindheit, in der sich Jeanne zum lebensbestimmenden Idol entwickelt hatte. |
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Marguerite Yourcenar hatte erst mit Verzögerung von Jeannes Tod erfahren. War es da nicht natürlich – auch ohne Hintergedanken an einen eigenen Roman – den Witwer nach ihren letzten Jahren zu befragen und sich dabei selbst eine Anschauung von dem Menschen zu machen, den Jeanne trotz seiner Vorliebe für Männer nicht verlassen hatte?
Yourcenars Logis im Hotel Savoy in Zürich ist vom 29. bis 31. August 1927 nachgewiesen, und der dritte dieser Tage ist auch der (spontane?) Beginn ihres ersten kurzen Romans Alexis. Es wäre sehr plausibel, wenn dies unter dem Eindruck eines Besuchs bei Conrad geschehen wäre. (vgl. Michèle Goslar, S.87f, deutsche Ausgabe S.106) |
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Was als vertrauliche Mitteilung Conrads von der Biografin Michèle Goslar zuerst als "Hypothese" und in der Folge von ihr und von weiteren Biographen mehr oder weniger als "Faktum" angenommen wird, wäre eine Erklärung für den Impuls, den Marguerite Yourcenar hatte, nach der plausiblen Begegnung mit dem Roman umgehend anzufangen. Darüber hinaus sogar eine "Enthüllung/Offenbarung" (révélations) oder ein "Herzausschütten" oder eine "Einweihung in sein Geheimnis" (confidences) Conrads gegenüber der jungen Marguerite anzunehmen, ist eine – allerdings auf eine Andeutung Yourcenars zurückgreifende – recht suggestive, eher abwegige Spekulation.
Aus der Kenntnis der Person Conrads ist es unwahrscheinlich, dass er in der damaligen Zeit, außerdem in seiner vornehmen, gehemmten Art und noch dazu einer jungen (ebenfalls adligen) Frau gegenüber Näheres über seine Ehe – geschweige denn über sein Liebesleben – preisgab. Angesichts des Tabuthemas und seiner aristokratischen Erziehung ist dies kaum denkbar. Aber natürlich wissen wir nicht, ob er sich zu einer diskret formulierten Andeutung hatte bewegen lassen, falls ihn die unkonventionelle Autorin von Alexis direkt nach einem Verhältnis zwischen ihrem Vater und Jeanne gefragt haben sollte. So mag es in dieser Ausnahmebegegnung geschehen sein, auch wenn es weder psychologisch noch von der Etikette her besonders glaubwürdig erscheint. |
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Widmung im Alexis:
Für Egon de Vietinghoff ein kleines Buch, das er zweifelsohne schon kennt, das mich aber ein ganzes Leben begleitet hat herzlichst. Marguerite Y. |
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In jedem Fall wird Marguerite Yourcenar der Besuch bei Conrad geholfen haben. Sie saß ihm zum ersten Mal als Erwachsene gegenüber, nahm seine ungewöhnliche Aura wahr, seine behutsame und schüchterne Art, die heute kaum noch vorstellbar ist. Sie nahm die Atmosphäre auf, die ihn umgab und die sie im Alexis so treffend heraufbeschwor. Aber muss es denn ein "Geständnis" expressis verbis gewesen sein, das ihr den schriftstellerischen Impuls zu diesem Werk gab, das als eines ihrer besten gilt?
Das Thema der Homoerotik bewegte sie selbst so sehr, dass dessen Bearbeitung offensichtlich reif war und es nur noch eines Auslösers zur literarischen Umsetzung bedurfte. Dafür konnte ihre intuitive Wahrnehmung des Menschen Conrad oder seiner Wohnung genügen, eine dezente Umschreibung, ein Zitat von Plato, ein paar Bände von Vergil, Verlaine, Rimbaud, Wilde, Gide, Proust oder Hesse in Conrads Regal, die Abbildung einer Statue eines griechischen Jünglings oder einfach sein verlegenes Lächeln ... In die Erinnerungslücken füllt M. Yourcenar psychologisch plausible Rekonstruktionen, Unausgesprochenes wird durch Poesie und Selbstreflexion ersetzt, Ahnungen werden dramaturgisch verdichtet. Sie macht Vergangenheit für den Leser nicht durchsichtig indem sie Geschichten nacherzählend ausbreitet, sondern umgekehrt: sie benutzt die Unklarheit des Vergangenen als Rahmen, in den sie aktuelle Beobachtungen anderer und ihre eigenen Gefühle und Verhaltensweisen integriert. |
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In ihrer Einführung zur Biographie über M. Yourcenar schreibt J. Savigneau: Wie viel an diesem Durcheinander ist Absicht? und Wirklich interessiert hat sie an ihrem Leben nur, was einen Vorwand zu literarischer Umformung liefern konnte.
(s.u. Biographien, S.20) Sie selbst schreibt: Jedes literarische Werk ist also gemacht aus einer Mischung von Vorstellung, Erinnerung und Tatsachen, aus Kenntnissen und Informationen, die man im Laufe des Lebens über das Gespräch oder durch Bücher erwarb, und aus Spreu unserer eigenen Existenz. (M. Yourcenar, Nachwort zu Un homme obscur, dt. Ein Mann im Dunkeln) Die technischen Möglichkeiten, einen Roman zu gestalten, sind die einzigen Mittel, um zu einer biographischen Wahrheit zu gelangen, nur die imaginär gewobenen Fäden zwischen den Tatsachen machen diese plausibel und geben ihnen eine Legitimität, unser Leben ist zeitlich begrenzt aber sowohl hypothetisch als auch herzergreifend. (Marguerite Yourcenar, Brief an Jean Roudaut) Ein von Yourcenar eingesetztes Mittel, um Distanz zur Realität zu erreichen, ist nicht nur einfaches Ersetzen, sondern auch das Austauschen und Verändern von Namen: aus Conrad wird "Alexis" oder "Egon", aus Alexis wird "Axel". Damit bleibt eine innere Verbindung zur Wirklichkeit teilweise erhalten. Diese Neigung, mit Namen, Orten und Fakten zu spielen, manifestierte sich schon in ihrem Pseudonym, das sie durch eine andere Anordnung der Buchstaben ihres eigentlichen Familiennamens bildete, der mit Marguerite (plus vier weiteren Vornamen) Cleenewerck de Crayencour ohnehin etwas lang war. Aus Crayencour wurde das Anagramm Yourcenar – nur das zweite "c" blieb dabei auf der Strecke. Auch hier war sie keine Pedantin. |
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Obgleich sie sich in historische Zeiten und Individuen einfühlt und über ein unglaubliches Wissen verfügt, lässt sie offen, phantasiert, assoziiert. Sie gestaltet mit Worten.
Sie hat dabei nicht nur Künstlerisches im Sinne, denn häufig ist es ein offensichtliches Verpacken eigener Wesensanteile in den Figuren. Dabei sind homoerotische Beziehungen oder auch nur deren Andeutungen eines ihres auffälligsten Lieblingsthemen, das sich durch ihr gesamtes Werk zieht, womit sie ihre eigene Homosexualität oder ihre Liebesgefühle zu homosexuellen Männern verarbeitet. Gerade in ihrem Erstlingswerk Alexis, denn sie war bei der Veröffentlichung erst 26 Jahre alt und das in einer Zeit, in der gleichgeschlechtliche Neigungen bei weitem nicht so frei gezeigt werden konnten, wie heute in vielen Ländern. |
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Jeanne de Vietinghoff – Michel de Crayencour – Alexis v.Vietinghoff
Jeanne de Vietinghoff blieb Michel de Crayencour, dem Mann ihrer verstorbenen Jugendfreundin weiterhin verbunden. In bestimmten Jahren scheint der Kontakt spärlich in anderen intensiver gewesen zu sein. Es ist bekannt, dass Monsieur de Crayencour erotischen Abenteuern mit Frauen alles andere als abgeneigt war. Geradezu unmenschlich wäre es, von ihm zu erwarten, sich spätestens als Witwer nicht in die faszinierende Jeanne verliebt zu haben. Nachdem er weiß (oder merkt), dass ihr Partner (Conrad) – trotz der gemeinsamen Söhne – physisch doch mehr den Männern zugeneigt war, mag er sich vielleicht Hoffnungen gemacht haben, mit ihr mehr als eine lose freundschaftliche Beziehung zu leben.
Es kann nicht völlig ausgeschlossen werden, dass Jeanne de Vietinghoff nach dem einem oder anderen Gespräch auch über ihr Eheleben in einer schwachen Stunde dem Charme von Michel de Crayencour erlag, und auch nicht, dass beide sich einmal – auch physisch – gegenseitig Trost spendeten. Konkretere Anhaltspunkte, dass daraus – sofern es überhaupt jemals vorkam – eine außereheliche Beziehung entstanden sei, geben jedoch weder die Andeutungen (Phantasien?) Marguerite Yourcenars her noch gibt es von Seiten der Vietinghoffs irgendwelche Hinweise dafür, weder in der mündlichen Familienüberlieferung noch in irgendwelchen Notizen. Eine längere Beziehung hätte auch kaum in der Natur der beiden gelegen: er war zu unstet und hatte bei Weitem nicht ihren Tiefgang, während sie ihre moralischen Werte lebte, ihre Kinder hatte und dem in vielen Dingen hilflosen Conrad verpflichtet war. Über eine intime Beziehung gibt es lediglich Vermutungen in Yourcenars letztem Werk Liebesläufe, einem autobiographisch inspirierten Roman(!), in dem viele persönliche und literarische Phantasien miteinander verwoben sind. Zweitens gibt es die daraus abgeleiteten Überlegungen ihrer Biographen, während drittens aus den Nachlässen der Vietinghoffs (von Jeanne, Conrad und Egon) nur ein einziges formelles Foto von Monsieur de Crayencour existiert. Das alles lässt keinesfalls auf eine intensive Verbindung seitens Jeanne schließen. |
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Wie sehr Marguerite Yourcenar selbst zwischen den beiden Möglichkeiten schwankte, ob ihr Vater und ihre erträumte Mutter Jeanne ein Verhältnis hatten oder nicht, zeigt sich in unterschiedlichen Passagen ihrer Werke. Während sie in Liebesläufe eine intimere Beziehung suggeriert und von ihres Vaters großer Liebe spricht (was ja nicht heißt, dass diese erwidert, ausgelebt und erfüllt wurde), gibt sie in zwei ihrer Romane, genau das Bild wieder, welches den persönlichen Erzählungen über Jeanne entspricht.
In Anna, sorror… beschreibt sie Valentina, der sie ausdrücklich Eigenschaften von Jeanne gab, folgendermaßen: Als mustergültige Gattin hatte sie niemals Liebhaber .... In Ich zähmte die Wölfin charakterisiert sie die Kaiserin Plotina, die ebenfalls starke Züge Jeannes trägt, auf folgende Weise: ..., ebenso war ihr meine leidenschaftliche Lust am Fleische fremd. Sie war keusch, weil sie es verschmähte, das Leben leicht zu nehmen, großmütig mehr aus Überzeugung als von Natur, voll weisen Misstrauens, aber doch bereit, einen Freund so wie er war hinzunehmen, mit allen seinen Fehlern. Die einmal getroffene Wahl verpflichtete sie ganz, sie ging in der Freundschaft auf wie ich in der Liebe. …. Nie beging sie in meinem Beisein den groben Fehler, über den Kaiser [ihren Mann = Conrad] zu klagen, noch auch den feineren, ihn zu entschuldigen oder herauszustreichen. … Plotina schien keine Müdigkeit zu kennen, sie war so widerstandsfähig, wie sie zart war. (S.69). Im unvollendeten Alterswerk Liebesläufe taucht der Versuch erneut auf, die lebenslang ungelöste Frage der Beziehung zwischen ihrem Vater und Jeanne zu klären: Er fragt nicht, ob Jeanne ihn liebe. Dieser Mann, den man fälschlich für den Typus des Eroberers hält, ist der Frau gegenüber zu bescheiden, um sich diese Frage zu stellen. Aber es bleibt ein Rätsel. Jeanne ist weder zügellos noch nymphomanisch. Ihre glühende Saftheit, ihr zärtliches Verlangen, in der eigenen Lust dem anderen Lust zu schenken, beweisen dies. ... Ist es möglich, dass ein paar Tage Abwesenheit genügen, damit Jeanne ihre Türe einem fast Unbekannten öffnet, den sie nur als den Witwer einer ehemaligen Freundin kennt? Zwei Seiten danach aber Michel, der diesen schönen nackten Leib mehr als einmal in seinen Armen hielt, weiß instinktiv, dass er nicht versuchen darf, weiter in die Geheimnisse dieses Frauenlebens einzudringen. Aber wozu auch? Besser, in Frieden den besten Teil eines schönen Sommers genießen, wann immer er sich bietet. (Liebesläufe S. 111 und S.113) |
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Bemerkenswert ist auch dieses Zitat: Es genügt ..., dass sie ... einem Verlangen Michaels nach völliger Hingabe nicht nachkommt, damit sie zu einer Frau wird, die [er] verleugnet oder [ihm] Abscheu einflößt. (Liebesläufe S. 172)
Es ist deshalb reine Spekulation, wenn die Biographin Michèle Goslar ihre Nachforschungen in der Vermutung gipfeln lässt, dass Alexis (der Bruder des Malers Egon v.V.), ein Sohn von Michel de Crayencour und Jeanne gewesen sei oder gewesen sein könnte. Trotz aufwändiger und akribischer Recherchen von Madame Goslar halten wir – nach sehr langem Abwägen – diese wiederholt und gesteigert vorgetragene Schlussfolgerung für unangemessen: Alexis von Vietinghoff war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht der Halbbruder von Marguerite. Bei Annahme dieser spektakulären Hypothese könnte zwar die eine oder andere offene Frage in den Beziehungen der beiden Familien beantwortet werden, andere dafür nicht und neue Widersprüche tauchten auf. |
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Wer sich auf den angeblichen Brief (Liebesläufe, Fischer TB, S. 63) von "Jeanne de Reval" an Michel de Crayencourt beruft, sollte zur Kenntnis nehmen, dass Jeanne darin von 2 gemeinsamen Söhnen mit ihrem Mann spricht.
Der Brief beinhaltet Fehler bezüglich ihrer Hochzeit und zweier Wohnorte, die Jeanne v.V. sicherlich nicht geschrieben hätte. Dieser Brief muss also eine Erfindung Yourcenars sein und offensichtlich ihre eigene Meinung wiedergeben, nämlich dass Jeannes Söhne Egon und Alexis echte Brüder sind. Der von der Biographin Michèle Goslar wiederholt geäußerten Hypothese (ihrer persönlichen Lieblingsidee), dass Alexis einem außerehelichen Verhältnis von Jeanne mit Michel entsprossen sein könnte, wird dadurch die Nahrung entzogen. M.Y. selbst scheint nie auf diese Idee gekommen zu sein, schreibt sie in Liebesläufe doch (S.112): … aber Egons ("von Reval" = Conrad) beide Söhne sind ihm ähnlich und (S.136) ... Liebe zu Egon ("von Reval"), an der Michel … nun nicht mehr zweifelt. Liebe zu ihren beiden Söhnen…. Ebenso im Nachwort zu "Anna, soror..." (S.113) An anderer Stelle habe ich gesagt, dass die Umstände mir nur einen Halbbruder gewährt haben, der neunzehn Jahre älter war..., womit der Sohn aus der früheren Ehe ihres Vaters gemeint ist. (Übersetzung von Anna Ballarin) |
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Dem sie umwerbenden und in ferne Länder lockenden Michel antwortet sie in einem fiktiven Dialog: Sie vergessen, dass ich zwei Kinder habe, worauf er meint: Sie würden dann drei haben. Er (Conrad alias "Egon von Reval") kann Ihnen nicht verwehren, dass Sie seine beiden Söhne für sich beanspruchen. Und sollte er versuchen, sie Ihnen wieder wegzunehmen …, dann wüsste er nicht einmal, wo er uns finden würde. … Im Übrigen werden Sie meinen Namen tragen. Ich werde eine Yacht kaufen. (S.170)
Hätte M.Y. den gleichen Verdacht wie M. Goslar gehabt, hätte sie diese Sätze bestimmt nicht so geschrieben. Der angebliche Brief (S. 63) beginnt schon mit der äußerst unwahrscheinlichen Behauptung, dass Jeanne erst Jahre nach Fernandes Tod davon erfahren hätte. In ihrem Nachlass befinden sich jedoch noch heute die Todesanzeige vom 19.6.1903 sowie ein katholisches Gebetskärtchen. |
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Es bleiben jedoch Auffälligkeiten, z.B. was die Aufenthaltsorte von Jeanne de Vietinghoff und Michel de Crayencour angeht. Zum Einen die relative Nähe ihrer Sommerhäuser in Südfrankreich: das von Michel in Saint-Romain*) und dasjenige von Jeanne in Roquebrune**), Département Alpes maritimes. Doch, muss gleich eine Liebesbeziehung dahinter stecken, wenn Freunde in einer äußerst populären Urlaubsgegend Sommerhäuser besitzen?
*) Per Internet waren in Frankreich 31 Gemeinden zu finden, die "Saint-Romain" heißen oder dies als Zusatz im Namen tragen. Wir wissen nicht mit Sicherheit, welches die gesuchte ist. Das zu Roquebrune (dép. Alpes maritimes) nächstgelegene "Saint-Romain" liegt im Département Vienne, im heutigen Straßennetz immerhin 110 km entfernt, was also nicht unbedingt als Stütze der suggestiv vorgetragenen These bewertet werden kann, die Orte seien ihrer Nähe wegen zwischen Jeanne und Michel möglicherweise abgesprochen worden. **) Achtung: es gibt in Südfrankreich zwei Orte mit diesem Namen. |
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Zum Anderen führten ihre Krebsleiden beide zu einem Spezialisten in Pully am Genfersee. Ob sie sich bei der Wahl des Orts und der Therapie austauschten, ist unbekannt. Michel de Crayencour erfuhr jedoch erst dort, dass Jeanne bereits gestorben war und erlag seiner Krankheit 2½ Jahre nach ihr. Auch dieser Umstand spricht nicht gerade für einen engeren Kontakt zweier Menschen mit einem gemeinsamen Kind. |
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Alexis von Vietinghoff liegt zusammen mit seinem Vater in Zollikon begraben, einem Vorort von Zürich. Die Pflege der Gräber wurde jedoch Mitte der 1990er Jahre beendet und die Steine zur Wiederverwendung freigegeben. |
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Etwa zehn Jahre später waren die Gräber noch nicht wieder belegt, so dass wir uns darum bemühten, eine Erlaubnis für einen Gentest zu bekommen, für den lediglich ein paar kleine Proben der Gebeine genügt hätten. Da wir an den engen und strikten Gesetzen über die sogenannte "Friedhofsruhe" im Kanton Zürich scheiterten, war uns damit leider verwehrt, die Spekulationen um die Vaterschaft durch eine wissenschaftliche Analyse ein für allemal zu beenden. 2017 haben wir festgestellt, dass die Gräber wieder belegt waren.
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Der zwar nur laienhafte Vergleich der Fotos von Alexis und des rundplastischen Porträts von Conrad (ausgeführt von Flora Steiger-Crawford) zeigt Gemeinsamkeiten: ein schmales Gesicht und eine ähnliche Form des Hinterkopfs. Der Schädel von M. de Crayencour scheint kugeliger geformt zu sein (s.o.). Auch Alexis' Nase passt zur Physiognomie anderer Vietinghoffs. An der Stirne hatten Conrad und Alexis als Kind einen gleichen Haarwirbel an der Stirne. Insbesondere als Kind ist Alexis' Erscheinung die eines nordischen Typus. Auch wenn dies keine stringente Beweisführung ist,so machen die vorhandenen Ähnlichkeiten die Verwandtschaft plausibel und ergeben wenigstens keinen besonderen Verdacht für eine von der bekannten abweichende Vaterschaft, die außer von der Yourcenar-Biographin Michèle Goslar von niemandem jemals in Zweifel gezogen wurde.
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