Jeanne von Vietinghoff, die Mutter
12. Zur Tiefenpsychologie Yourcenars (s. Punkt 11) gibt es eine weitere interessante Passage:
Die zweite Missetat war eine Lüge. Ich glaube nicht, dass ich je einen Hang zur Mythomanie hatte, und trotzdem erlag ich dem Fabulierdrang. … Wie zu erwarten war, landete die Geschichte bei Michel, der in seinem liebevollen Ton zu mir sagte: "Diese Lüge hätte Jeanne von Reval niemals getan. … Du wusstest doch, dass das ein Strauß frischer Blumen war? Warum dann behaupten, sie seien aus Gold?' – Damit es schöner ist, sagte ich und senkte den Kopf. – Jeanne wusste, dass nur die Wahrheit schön ist, sagte er. Vergiss das nicht. – Ich hätte ihm antworten können… Doch die Beispiele, die mir diese zu vollkommene Frau hätten verhasst machen können, begeisterten mich. (S.220) Wie ist das also mit dem Fabulierdrang, mit "Dichtung und Wahrheit" in Yourcenars "Leben und Werk"? Auch an anderer Stelle ermahnte sie ihr Vater, nicht zu sehr zu fabulieren. |
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13.Jeanne machte keine Übersetzungen von Angelus Silesius oder von Novalis. Hingegen beschäftigte sich Yourcenar selbst mit Übersetzungen von Texten u.a. von V. Woolf, H. James, K. Kavafis, J. Baldwin, Y. Mishima, R. M. Rilke sowie altgriechischen Gedichten und Negrospirituals. Jeanne schrieb auch keine Biografien der Komponisten Gluck und Schubert, sie hatte jedoch Kontakt zu den Schriftstellern Maurice Maeterlinck, Romain Rolland und Guy de Pourtalès. Rolland schrieb Biographien über Michelangelo, Tolstoi, Gandhi, Händel und Beethoven. De Pourtalès schrieb über Nietzsche, Chopin, Berlioz, Liszt und Wagner. Das hat Marguerite Yourcenar sich ausgeliehen. (S.269)
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Zitate
[Noch ohne Kommentare]
(S.66) ...vielleicht spielte bei dieser Wahl eines katholischen Klosters in Belgien ... der Wunsch mit, Jeanne aus dem holländischen und protestantischen Alltagstrott herauszureißen... Jeanne fand kein Gefallen an der ein wenig kitschigen Frömmigkeit, den mit Blumen und Papierspitzen geschmückten Altären und vor allem am eitlen gesellschaftlichen Ehrgeiz, der schon bei diesen kleinen Mädchen deutlich spürbar war (S.67) Fernande staunt über die schmucklose Gläubigkeit der jungen Protestantin. Glücklicherweise oder dank einer überdurchschnittlich vernünftigen religiösen Erziehung unterließ es Jeanne, diesen poetischen Posen die Bibel entgegenzuhalten, sie scheint nicht überzeugt, dass alle Wahrheiten in einem Buch enthalten seien, das man als das Buch der Bücher bezeichnet. |
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(S.109) Noch ehe sie ihn sieht, spürt Jeanne sein Nahen an jenem köstlichen Schauder, der sich in drei Jahren des Zusammenlebens nicht verloren hat. Dieser junge Mann [Conrad alias "Egon von Reval] - nicht ganz ein Vater, nicht ganz ein Ehemann und nicht ganz ein Familienoberhaupt -, ist ein Gott geblieben.
(S.112f) Als Jeanne ihrer Freude darüber Ausdruck gegeben hat, für eine Weile Fernandes Tochter in ihrer Obhut zu haben, meinte er [Michel de Crayencour], sie könne doch eines Tages selber ein Töchterchen bekommen; die junge Frau schüttelte den Kopf; zwei Kinder genügten ihr. Dieses offene Wort über ein Thema, das die Frauen damals nur unter sich erörterten und nur unter unendlichen Umschreibungen, fand er bewundernswert. Bewundernswert auch, dass er sie niemals über irgend jemanden hat Schlechtes sprechen hören, übrigens auch nichts Gutes nur einfach aus Höflichkeit. Nie hat er in ihrer Stimme einen Tonfall von Gereiztheit oder Spott erhascht oder auch nur von übertriebener Beflissenheit; sie spricht zu den Kindern, ohne in kindische Töne zu verfallen. ... Auch in Jeannes Schweigen verbirgt sich keine Ablehnung. ... aber Michel, der noch einen Rest der für das Eheleben geltenden Moralgesetze bewahrt hat, kann sich nicht vorstellen, dass eine Frau, die alles, was sie gemein dünkt, so strikt ablehnt, sich als Tarnung für etwas hergibt, was die gute Gesellschaft seiner Zeit, ja, die Gesellschaft überhaupt, nicht beim Namen zu nennen wagt. Wenn Jeanne jemals zu ihm [Michel] von Egon [von Reval] spricht, so schildert sie die Kindheitserinnerungen des jungen Mannes, die sie zu ihren eigenen gemacht hat... |
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(S.113) Das große Problem ist Gott, das weiß er [Michel] sehr wohl. Jeanne spricht kaum über ihn, aber man fühlt, dass sie ihn ein- und ausatmet wie ihre Lebensluft. Ihre wenigen kleinen Schriften, schwierig und wider ihre Absicht gekünstelt durch den akademisch gebliebenen Stil ihrer protestantischen Lehrer, werden nur an einige Freunde verteilt und haben in Wahrheit keine anderen Themen. Der Starrsinn Pastor Niedermayers, für den Logik und Theologie das A und O sind, haben sie wenigstens vor jenem ominösen Okkultismus und religiösen Exotismus bewahrt, ...und es liegt auch nicht in ihrer Natur, in trockene Wissenschaftlichkeit zu verfallen. ... Er ist für sie das Höchste Gut und die Gleichsetzung des Höchsten Guts mit der universalen Kraft, ... wird sie unweigerlich früher oder später mit dem Dilemma konfrontiert... Das Böse verneinen oder das Böse bejahen. Im Moment beschäftigt sie nur das Gute, und der Friede, der sie umgibt, ist vielleicht um diesen Preis erkauft. Sie liebt Gott in Egon, was den jungen Balten außer Konkurrenz stellt...
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(S.135) Sobald er [Michel] sie [Jeanne] aus dem Zug steigen ... sieht, begreift er, dass seine Erinnerung nur ein blasser Abklatsch der einzigen und unersetzlichen Frau gewesen ist. Wo sonst hätte er diese liebevollen Augen gefunden, diese Ruhe, von der die Kraft auszugehen scheint? Wie vor den Sternstunden der griechischen Bildhauerkunst fühlt man, über diese Ausgewogenheit der Proportionen und die Perfektion der Formen hinaus, das Göttliche im Menschen.
(S.148) Aber Egon [von Reval = Conrad] ist für sie [Jeanne] zugleich ein Geliebter, ein Sohn auch wenn sie gleichaltrig sind -, ein Bruder und ein Gott. Sie nimmt sogar hin, dass er manchmal ein gefallener Gott ist. (S.171) Sie [Jeanne] fühlte sich [von Michel] mehr vergöttert als geliebt. |
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(S.220) Ich hätte ihm [Michel] sagen können, dass nach dem, was er mir sagte, nach den Fotos und den vagen Erinnerungen, die mir verblieben, Jeanne schön war und es nicht nötig hatte, sich um eine schlecht gebundene Schleife zu sorgen.
(S.221) Ich wäre wohl ganz anders als ich bin, wenn Jeanne mich nicht aus der Ferne geformt hätte. (S.222) Jeanne war da.... Sie hatte sich nicht verändert. Ihr Gesicht unter dem großen Hut, den weder Straußenfedern noch tote Vögel überfrachteten, war geblieben, wie ich es in Erinnerung hatte. Entgegen den damals allein gültigen Anstandsregeln für eine Dame von feiner Lebensart das heißt Knie nebeneinander und fast geschlossen, Handschuhe nur halb abgezogen hatte sie ihre Handschuhe auf den Tisch gelegt und die Beine übereinander geschlagen, was ihr eine überraschend ruhige Ungezwungenheit der Bewegungen zu verleihen schien. Ihr silbergrauer, schräg geschnittener Seidenrock spannte sich von der Hüfte bis zu den Waden und ließ einige Zentimeter dünner Strümpfe sehen sowie Halbschuhe, statt der damals von den meisten Damen getragenen Knöpfstifeletten. Sie streckte mir die Arme entgegen. Ich stürzte mich mit Freuden hinein. Ihr Kuss, der zugleich aus der Seele, aus dem Herzen und aus dem ganzen Körper kam, stellte sofort die einstige spontane Vertrautheit wieder her, obgleich die vergangenen vier Jahre der Abwesenheit fast die Hälfte meines damaligen Lebens darstellten. Nach der Zeitfolge der Erzählung müsste diese Begegnung spätestens 1913 stattgefunden haben. Dann wäre Marguerite 10 Jahre alt gewesen und fast die Hälfte meines Lebens könnten tatsächlich vier Jahre bedeuten. Eine so lange Abwesenheit kollidiert jedoch mit den behaupteten Besuchen in der Rue Cernuschi, die sie in die Jahre 1909 bis ca. 1912 legt, was keine vier Jahre Abwesenheit erlaubt und wegen des Umzugs der Vietinghoffs nach Wiesbaden 1907 ohnehin nicht sein kann. |
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Egon von Vietinghoff und Marguerite Yourcenar
Jeanne de Vietinghoff lud den Witwer Michel de Crayencour und seine Tochter im Sommer 1905 nach Den Haag in Holland in das Haus ihrer Mutter ein, wo der spätere Kunstmaler und die spätere Schriftstellerin am nahe gelegenen Strand von Scheveningen eifrig im Sand spielten. Schon als Knirps ein Verehrer des Weiblichen kann er sich später an erste Liebesgefühle erinnern. Seine Mutter machte eine bekannte Photographie, auf der Klein-Egon an Klein-Marguerite seinen ersten Handkuss vergibt. Marguerite, ihr Vater, Jeanne und Egon verlebten dort wahrscheinlich 1906 noch einmal einen Sommer.
Egon, der Maler, las gerne französische Literatur, so dass er irgendwann auch auf die Werke von Marguerite Yourcenar stieß, auf welche zuerst, entzieht sich unserer Kenntnis. Sie hatten seit Jahrzehnten keinen Kontakt; er wusste jedoch, dass sie Schriftstellerin geworden war. Aufgrund der Einleitungen, der teilweise baltischen Romankulissen, des gemeinsamen Geburtsjahrs und des seltsamen Namens "Yourcenar", der ein Pseudonym sein musste und dessen Buchstaben zu dem ihm bekannten Namen Crayencour passten – irgendwie war er sich schon länger gewiss, dass die Autorin seine damalige Gespielin am Strand von Scheveningen war. Immer wieder erkannte er auch den Nachhall seiner Eltern im yourcenarschen Werk. Später wurde ihre Identität öffentlich und Egon bekam von aufmerksamen Freunden Zeitungsartikel über sie. |
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Erst spät und nach wiederholtem Zureden durch seinen Sohn überwand er seine Scheu und schrieb ihr einen Brief über den Verlag ihrer Bücher. Diese Kontaktaufnahme führte nach über 75 Jahren zu einem Wiedersehen von Egon und Marguerite in Amsterdam, wo sie 1983 den Erasmus-Preis entgegennahm, nachdem sie schon als erste Frau in die Académie Française gewählt worden war und drei Ehrendoktortitel (darunter der Harvard University) sowie andere Ehrungen erhalten hatte.
Trotz Wiedersehensfreude und großer Übereinstimmungen in vielen, wesentlichen Ansichten war sie etwas enttäuscht, dass Egon ihr in vielen Fragen zur Vergangenheit, nicht mehr weiterhelfen konnte. Sie beschäftigte sich gerade mit ihrem Band Liebesläufe und suchte nach vermissten Bausteinen; aber es war ja so viel Zeit verflossen! Außerdem war Egon naiv und in unbequemen Themen ein Meister der Verdrängung. Obwohl er fast ihr gesamtes Opus kennt, ahnte er erst jetzt, welchen erotischen Weg sie ging. Unglaublich, aber wahr! Er selbst sprach wenig darüber, aber er scheint unter der Homoerotik seines Vaters ziemlich gelitten zu haben. |
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Im Sommer 1983 entstand zwischen Egon und Marguerite eine kleine Korrespondenz. Ihre Antwort auf seine erste Kontaktaufnahme beginnt so:
Lieber Egon, – mit welchem anderen Namen sollte ich den kleinen Jungen anreden, der mit mir auf dem Sand von Scheveningen herumlief? Ihr Brief hat mich erfreut und schien mir aus einer tiefen Vergangenheit zu kommen. – Wenn ich ein wenig Ihre erste Liebe war, so waren Sie ein bisschen die meine. Ich erinnere mich ganz genau an unsere Spiele am Strand, so wie man sich eben an seine früheste Kindheit erinnert, d.h. mit Hilfe überbrückender Photographien. Diese wurden mir von meinem Vater gezeigt als ich etwa acht Jahre alt war – seither habe ich sie nicht wieder gesehen, aber ich bin Ihnen dankbar, dass ich sie durch Sie wieder so sehe, wie ich sie in Erinnerung hatte. Dass wir über so viele Dinge gleich dachten, ist für mich von großem Interesse; um zu diesem Ergebnis zu kommen, ist anzunehmen, dass sich unsere vermutlich so unterschiedlichen Ansichten zeitweise parallel entwickelten. (M.Y. an Egon von Vietinghoff in einem Brief vom 28.6.1983). |
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Ja, das Leben wäre vielleicht anders gewesen, wenn wir uns nicht aus den Augen verloren hätten seit unserer Kindheit ... ich bedauere es unendlich, dass wir so lange Zeit voneinander entfernt blieben.
(Marguerite Yourcenar an Egon von Vietinghoff in einem Brief vom 24.7.1983) |
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Ähnlich wie Egon rettet sich Marguerite aus belastenden Prägungen früher Lebensjahre mittels ihrer Kreativität, in einer Art Flucht nach vorne, ebenso leidenschaftlich wie künstlerisch sensibel. Zwar war sie im Gegensatz zu Egon als Mensch des Wortes an psychologischen Zusammenhängen interessiert, beiden kam es aber auf jene andere Ebene übergeordneter Wahrheiten an und nicht auf die realistisch korrekte Nacherzählung.
Hier waren sie wesensverwandt: Kunst ist nicht Abbildung. |
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