Jeanne von Vietinghoff, die Mutter
Vietinghoff und Yourcenar
Die Beziehungen zwischen Jeanne, Conrad, Egon und Alexis von Vietinghoff sind vielfältig, teilweise undurchsichtig. Sie sind zeitlich und räumlich gesehen lose oder sporadischer Natur, in den tatsächlichen Begegnungen jedoch intensiv und menschlich bedeutsam.
(M.Y. schickte eine 1. Fassung von Diotima an Hélène Naville, welche die Autorin unter ihrem Geburtsnamen kannte und den Nachruf (s.u.) auf Jeanne de Vietinghoff geschrieben hatte. Auf dem Durchschlag des auf einer Schreibmaschine getippten Manuskripts "outet" sie sich folgendermaßen: Marg Yourcenar es ist das Pseudonym dessen ich mich üblicherweise bediene. Marguerite de Crayencour. |
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Jeanne – Fernande – Marguerite
Jeanne Bricou (später de Vietinghoff) verbindet mit ihrer Freundin aus der Schulzeit im Brüsseler Konvent, Fernande Cartier de Marchienne (später de Crayencour), ein Versprechen, sich gegenseitig um die Kinder zu kümmern, falls einer von beiden etwas zustößt.
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Beide heiraten und sind teilweise gleichzeitig schwanger, doch die Freundin stirbt im Kindbett und Jeanne übernimmt eine Art lose Patenschaft der Halbwaisen Marguerite de Crayencour, soweit dies auf Distanz möglich ist. Jeanne lebt in Paris, Marguerite bei ihrem Vater in Belgien.
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Infolge dieser besonderen Umstände und der starken Ausstrahlung Jeannes wird die Mutter des Malers Egon von Vietinghoff zum Idol Marguerites, zur "erträumten Mutter". Sie eifert ihr nach, wird ebenso Schriftstellerin und als Marguerite Yourcenar weltberühmt.
Sie schreibt: Ich war nicht die Tochter Fernandes ... Ich war eher die Tochter Jeannes ... Ich wäre wohl ganz anders, als ich bin, wenn Jeanne mich nicht aus der Ferne geformt hätte. (Liebesläufe) Ihre Mutter, von der mein Vater, der für sie eine große Bewunderung hatte, oft sprach, ist für mich zu einer Legende geworden, zu einer Legende, die mein Leben beeinflusste. (Marguerite Yourcenar an Egon v. V. in einem Brief vom 28.6.1983). |
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Ja, der Einfluss Ihrer Mutter auf meine Jugend war, zum Teil über eine Zwischenperson – meinen Vater – sehr groß. Und da man den Impuls der Jugend mehr oder weniger während des ganzen Lebens lang fortsetzt, so widerfährt es mir noch immer, dass ich mich frage «Was hätte sie gemacht?». All das hat fast eine magische Seite – diese Übertragung*) – über die man kaum etwas sagen kann.
(M.Y. an E.v.V. in einem Brief vom 22.12.1984) *) Was M.Y. exakt mit transmission meint, bleibt offen, ob eine Übertragung im psychologischen Sinne oder eine spirituelle Weitergabe oder noch etwas Anderes. |
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Gegenüber Josyane Savigneau, einer Biographin von Marguerite Yourcenar, meint Egon von Vietinghoff:
Ich glaube nicht, dass meine Mutter gewusst hat, welchen Platz sie in Marguerites Leben einnahm. Sie war sehr bescheiden und prahlte nicht mit dem Einfluss, den sie gehabt haben mochte. Sie [die Mutter] hat ein paar Bücher geschrieben, aber sie selbst war viel überragender als diese kleinen Werke. |
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Conrad von Vietinghoff, der Vater des Malers inspiriert sie zu der sehr frei gestalteten Figur ihres ersten Romans Alexis oder der vergebliche Kampf. Ausführliches dazu im Kapitel "Vater". Die viel prägendere Mutter Jeanne de Vietinghoff erscheint mehrfach in ihrem literarischen Werk:
- Sieben Sonette für eine Tote - Im Andenken an Diotima: Jeanne de Vietinghoff (= Grabmal in Die Zeit, die große Bildnerin) - Die neue Eurydike - Ich zähmte die Wölfin - Anna, soror... - Die schwarze Flamme - Gedenkbilder Nichtbiographische Assoziationen an die Welt der Eltern des Malers finden sich in Ansätzen auch in Der Fangschuss und im letzten Band ihrer familiengeschichtlichen Trilogie Das Labyrinth der Welt vor, der auf Deutsch den Titel Liebesläufe hat. Aber Achtung: Marguerite Yourcenar ist eine Meisterin im Verwischen konkreter Spuren und in der Synthese von Dichtung und inneren Wahrheiten! Sie verarbeitet stets ihre eigene Thematik subtil in den Figuren ihrer Werke. So ist besonders über Conrad immer wieder Falsches zu lesen, sowohl hinsichtlich seines Berufs und seiner biografischen Daten als auch seiner Vorlieben und seines Verhaltens. |
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Es ist eindringlich davon abzuraten, die Fülle nachprüfbarer Details sowie die plausiblen und lebensnahen Erzählungen von M.Y. dahingehend misszuverstehen, ihre Bücher als biographische oder autobiographische Dokumentationen anzusehen statt als Literatur.
Die Werke enthalten so viel Realität wie die Autorin als Kulisse braucht, um Antworten auf diejenigen Fragen zu entwerfen, welche sie seit dem Tode ihrer Mutter, d.h. seit ihrer Geburt, wie Variationen ihres vitalen Leitmotivs begleiten. Oder die sie wie Plagegeister immer wieder heimsuchen? Yourcenar schrieb keine Berichte, sondern biographisch gefärbte Romane in historischer Kulisse oder (umgekehrt) romanhafte Betrachtungen mit mehr oder weniger autobiographischen Anteilen. |
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Sieben Gedichte für eine Tote
Die Mutter Marguerites, Fernande de Crayencour, lebte von 1872 bis 1903; sie war also drei Jahre älter als Jeanne de Vietinghoff (1875-1926). Ihr Tod kommt dem zweiten Verlust einer Mutter gleich. Anlässlich des Todes ihres Vaters in derselben Gegend, pilgert Marguerite zu Jeannes Grab über dem sommerlichen Genfersee. Anders als beim Tod ihrer Mutter kurz nach ihrer Geburt ist sie als Erwachsene in der Lage, ihren Schmerz auszudrücken.
Ein bis zwei Jahre nach dem Tode Jeannes (1927/28) verfasst sie die Sieben Gedichte für die tote Isolde, die sie 1956 als Fünf Sonnette auf eine Tote noch einmal herausgibt. Schließlich erscheinen sie 1984 unter dem Titel Sieben Gedichte auf eine Tote in einer leicht veränderten Reihenfolge. Diese "unverbindlichen" Übersetzungen sind unprätentiöse Inhaltsangaben und keine künstlerisch anspruchsvolle Nachdichtung, nur um einen Eindruck der zärtlichen Nähe zwischen der jungen Marguerite und ihrer erträumten Mutter zu vermitteln. |
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Der Tod, wenn der Tod kommt, verbindet uns, ohne uns zu vereinigen.
Und die hochmütigen oder zum Schweigen gezwungenen Toten Hören uns nicht auf der schwarzen Schwelle des Mysteriums Eine Liebe beweinen, die niemals stattfand. Sie werden auf Ihren geschlossenen Augen nicht fühlen Das langsame Herunterfallen duftender Tränen. Ihr Herz ist im Wandel aufgelöst; Ich komme gerade rechtzeitig, um Sie für immer zu verlieren. In diesen engen Garten, wo andere Sie betteten, Schreite ich zögerlich voran, wie ein trauriger Fremder. Ich kehre zu spät zu Ihnen zurück… Ich bereue es, Ich beneide jene mit mehr Erfahrung, dass alles vergänglich ist, Die Ihnen ihre Liebe zeigten, als Sie noch lebten. Auf dem Weg zur Sonne suchte ich Ihren Schatten, Mein Bedauern schlägt gegen die Ecken eines Grabmals. |
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Der weniger zögernde Tod wusste besser, Sie zu empfangen.
Und man glaubt sich blind beim Tod einer Fackel. Die Sonne der Toten lässt anderer Leben reifen. Wie ein Kind zwischen Ihren umschließenden Armen angeschmiegt, Höre ich das Herz des ewigen Lebens schlagen. Durch jeden zitternden Finger der Gräser, die uns berühren, Können Sie mich segnen und ich Sie liebkosen. Wie hat die Schönheit der Welt Ihr Gesicht aufgenommen, Lebt von Ihrer Milde, leuchtet von Ihrer Klarheit, Und wie der nachdenkliche See in der Tiefe der Landschaft Mir nur Ihre Heiterkeit wiederholt. Sie werden niemals wissen, dass ich Ihre Seele in mir forttrage Wie eine goldene Lampe, die mir beim Gehen leuchtet Etwas von Ihrer Stimme ist in mein Lied eingegangen. Und Sie leben ein bisschen, weil ich Sie überlebe. |
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Im Andenken an Diotima
Sie besitzt das Genie des Herzens. Ich habe versäumt zu sagen, dass sie schön war. Sie starb fast noch jung, noch vor den Heimsuchungen des Alters, das sie nicht fürchtete. Weit mehr als ihr Werk erscheint ihr Leben mir vollkommen. (M.Y.)
Hätte Jeanne de Vietinghoff nichts geschrieben, so wäre ihre Persönlichkeit deshalb nicht weniger groß, nur hätten viele von uns es nie erfahren. Die Welt ist so beschaffen, dass die seltensten Tugenden eines Menschen stets das Geheimnis einiger weniger bleiben müssen. ... Das irdische Leben, das sie so sehr geliebt hat, war für sie nur die sichtbare Seite des ewigen Lebens. (M.Y.) [ Ergänzungen sind vorgesehen ] |
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Die neue Eurydike
[Keine deutsche Übersetzung erhältlich; Text steht noch aus]
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Anna, soror ...
Im Nachwort von 1981 zur 3. Fassung ihrer Novelle Anna, soror ... schreibt Marguerite Yourcenar zu Valentina, der Mutter der beiden Hauptgestalten:
Diese Frau, die vielleicht von einem eher platonischen als von einem christlichen Mystizismus durchströmt war, beeinflusst unwissentlich ihre ungestümen Kinder: in deren Sturm ließ sie etwas von ihrem Frieden dringen. Diese ausgeglichene Valentina will mir als eine erste Stufe zu der vollkommenen Frau erscheinen, wie ich sie oft erträumt habe ... Alle diese Frauen sind eindeutig von Jeanne von Vietinghoff inspiriert. Eine Frau, die gleichzeitig liebenswert und ungebunden ist, aus Klugheit passiv, nicht aus Schwäche, wie ich sie später in der Monique in 'Alexis’ zu zeichnen versucht habe, ebenso in der Plotina in 'Ich zähmte die Wölfin' und noch viel später in der Dame von Frösö ... in 'Die schwarze Flamme' .... Wenn ich mir die Mühe mache, sie hier aufzuzählen, so geschieht es, um zu zeigen, dass ich in sie in einer Reihe von Büchern, bei denen man mir gelegentlich vorwarf, die Frau zu vernachlässigen, einen guten Teil meines menschlichen Ideals legte. Zitate aus Anna, soror ... (1. Fassung 1925, 2. und publizierte Fassung 1935, 3. und zweite publizierte Fassung 1981. Deutsche Übersetzung 2003 von Anna Ballarin) Valentina war schön, von nobler Blässe und schlankem Wuchs, und ihre vollkommene Erscheinung entmutigte die Sonettschreiber*) beider Sizilien. ... Ihre Mutter selbst... brachte sie ... ins Kloster**) ... (und sie) erwarb schon jung die einzigartige Würde und die Ruhe derer, die nicht einmal nach Glück streben. *) Eine deutliche Anspielung auf ihre eigenen Sonette Sieben Gedichte für eine Tote, mit denen sie Jeanne ehrte. **) Eine Anspielung auf die Klosterschule in Jette bei Brüssel. |
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(S.8-11) ... hatte ihr Gemahl sie vernachlässigt ... (Sie) schöpfte keinen Argwohn. Als mustergültige Gattin hatte sie niemals Liebhaber ... Ihre Kinder verehrten in ihr eine Madonna. ... (Sie) sprach wenig, vom richtigen Instinkt derer geleitet, die sich geliebt fühlen, ohne sich verstanden zu wissen. ... "Bisweilen stieg sie die beiden Stufen .... empor, um die durchsichtigen Sarder [braune Karneole] gegen die letzten Strahlen der Sonne zu halten. Und Valentina, vom seitlich einfallenden Gold der Abenddämmerung umleuchtet, schien selbst so durchscheinend wie ihre Gemmen. ... (Sie) sagte mit ihrem schwebenden Lächeln: 'Alles Schöne leuchtet durch Gott'.
Donna Valentinas Leben war nur ein langes Gleiten hin zur Stille gewesen; sie gab sich ohne Kampf auf ... (sie) war eine von denen, über deren Existenz man verwundert ist. Dieses sind ebenso zutreffende und einfühlsame Charakterisierungen Jeannes wie diejenigen Conrads im Alexis. Besonders ihr Sohn Egon, der Maler, verehrte sie Zeit seines Lebens als unvergleichbare Frau, Mutter und Mensch - ebenso wie die Autorin selber. |
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Anmerkung: die heute noch vorhandenen Siegelringe des Ehepaars Conrad und Jeanne fassen tatsächlich transparente Steine, Sarder genannt: einen gelblich-braunen und einen rötlichen Karneol. Am Finger zwar dunkel, erscheint das Familienwappen der Vietinghoffs im Gegenlicht aber hell. Sie ziehen immer das Interesse von Kindern und Gesprächspartnern auf sich, so dass es so gut wie sicher ist, dass die bei der ersten Fassung der Novelle gerade 22 Jahre alte Marguerite Y. die Steine dieser Ringe hier assoziierte, die sie sicherlich aus ihrer Kindheit kannte. Wie sonst hätte sie gerade diese Steine beschrieben und sie so eindeutig als "Sarder" bezeichnet?"
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Donna Valentina trägt weitere, sehr bezeichnende Züge Jeanne de Vietinghoffs:
- Adoleszenz in einer Klosterschule - Schicklichkeit ihrer eigenen Kleidung ohne dabei eitel zu sein - bereitwillige Annahme ihres ehelichen Schicksals - Zweisprachigkeit mit den Kindern - äußerst höflicher Umgang innerhalb der Familie (Handküsse) - Art des Begleitens und großzügigen Gewährenlassens der Kinder trotz der kontrollierenden Versuche, sie vor Gefahren zu bewahren - soziale Hilfsbereitschaft und verständnisvolle Zuwendung - natürliche Autorität per einzigem Machtwort - Respekt vor der Weisheit der Natur - Mischung von philosophischem Geist und christlicher Frömmigkeit - klaglos ertragene Krankheit oder der zu frühe Tod. |
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Jedoch alles nicht in wörtlichem Sinne: z.B. hat Jeanne nicht Jahre zwischen schwermütigen Landgütern ... dem Kloster ... und ... der Festung verbracht, in keiner Apotheke Medizin hergestellt und verteilt. Sie wurde auch nicht von ihrem Ehemann physisch verlassen, von einem Wahlspruch "ut crystallum" ist nichts bekannt und ob sie eine so tadellose Kirchgängerin war, ist zumindest in der zweiten Lebenshälfte sehr zu bezweifeln. Schließlich ist auch die Lebensdauer nicht identisch. Marguerite Yourcenar kreiert dennoch ein überzeugendes Porträt Jeannes, das sie in ihrer Phantasie allerdings an die südländische Situation 300 Jahre vor Jeannes Lebenszeit anpasst.
Don Alvaro, Valentinas Ehemann, lässt dagegen keine konkreten Rückschlüsse auf den Ehemann Jeannes (Conrad) zu, wenngleich der richtige Eindruck übrig bleibt, dass sie sich auf ihn im Alltag aufgrund seiner Charakterstruktur und seines gespannten Verhältnisses zur Umwelt nicht verlassen konnte. |
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