Naturalismus ?
Das Wesen der bildenden Kunst (Manuskript)

 

Vietinghoff – der Mystiker und seine Zeitgenossen

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J.-B-.-S. Chardin, Stilleben mit Pfeifen und Trinkgefäßen (um 1737), Louvre, Paris Die stille Botschaft eines "visionären Malers" nach der Definition Vietinghoffs, die in einem Werk mehr und in einem anderen weniger stark mitschwingt, bleibt fast immer unterhalb der Bewusstseinsschwelle. Bei vielen offenen Betrachtern hinterlässt diese Botschaft jedoch das Gefühl von etwas Besonderem, z.B. ein Staunen, ein Ahnen, ein schwer zu begreifendes Berührtsein. Jedenfalls ist dies die andere Hälfte der Botschaft eines "visionär" arbeitenden Künstlers – neben Lebensfreude und Begeisterung an den Erscheinungen.

Leben hat eben diese beiden Seiten: die physische und die meta-physische! Egon von Vietinghoffs Botschaft heißt nicht: "Schaut her, hier liegt dieser Gegenstand!" oder "Bitte, hier habt ihr einen hübschen Zimmerschmuck!". Er vermittelt seine Art von Liebe zu der Welt, wie sie sich in Form und Farbe zeigt.

 

Tizian, Venus von Urbino (1538), Uffizien, Florenz In der bildenden Kunst zählt für Egon von Vietinghoff nur das, was auf der metaphysischen Ebene geschaut und visuell-visionär durchlebt ist – handwerkliches Können allerdings vorausgesetzt.

In den Momenten mystischer Einblicke wird er zum Werkzeug derjenigen geistigen Energie, welche nach Goethe "die Welt im Innersten zusammenhält". Er durchdringt damit die sichtbare Realität auf strikt visuellem Wege, während andere dasselbe auf philosophische, religiöse oder musikalische Weise tun. In einem meditativen, transzendierenden Zustand geistiger Sammlung "harrt" er der Gnade, am Wunder der Schöpfung teilzuhaben.

Das ist nicht seine eigene einzigartige Vorgehensweise; das erkennt er als das gemeinsame Merkmal in den Werken der Genies von Grünewald bis Turner, um hier nicht den ganzen Kreis seiner zwei Dutzend "Lieblingsmaler" aufzuzählen.
 

Raffael, Der Parnass (1511), Stanzen im Vatikan Dabei eröffnet sich ihm über das Auge, wichtigstes Sinnesorgan eines Malers, die sichtbare Natur als Manifestation einer metaphysischen Welt, die zum Staunen einlädt und intellektuell nicht zu beurteilen ist. Durch die künstlerische Aufbereitung kann dem Betrachter der Zugang dazu erleichtert werden. Diese nonverbale – jedoch nicht abstrakte(!) – Farbsprache ist der Ausdruck eines im Sinne Vietinghoffs "visionär" arbeitenden Künstlers. Sie ist an keine Konfession oder gedankliche Konstruktion gebunden: sie ist damit allgemein verständlich.

Seine "Schule reinen Schauens" als Schulung zu reinem, losgelösten Sehen ist keine ausgedachte, "kopfige" Theorie, sondern eine allgemeine neutrale Methode zur visuellen Versenkung, ein empirisch gefundenes Meditationsverfahren, analog zur Praxis des Zen, das als religionsübergreifende Übung mittlerweile in unterschiedlichen Glaubenstraditionen genutzt wird.
 

Arnold Böcklin, Die Toteninsel (III, 1883), Alte Nationalgalerie Berlin Die Mystiker aller Zeiten und Länder beschreiben – in Gleichnisse gekleidet und in den Begriffen ihres Weltbildes – parallele kosmische Erfahrungen und Einsichten in das Göttliche. Mystisches wird von der Ratio und vom Alltagserleben her entweder nicht wahrgenommen oder nur mit großer Vorsicht betrachtet. Die Grenzen zum Mystizismus und zum Mysteriösen sind nicht immer so deutlich, was sich auch im oft recht ungenauen Sprachgebrauch widerspiegelt. Außerdem bekam gerade in der heutigen, aufgeklärten Zeit der Begriff Mystik durch Missbrauch einen unguten Beigeschmack, teilweise auch zu Recht. Deshalb seien hier ein paar Definitionen angeführt, was unter Mystik und Mystiker zu verstehen ist, und wir erkennen dabei einige Züge des Menschen Egon v.Vietinghoff, seiner Arbeitsweise und seiner Philosophie wieder. Er war jedoch viel zu bescheiden und zu sehr vom Schaffensprozess absorbiert, als dass er sich selbst als Mystiker bezeichnet hätte.
 

Was ist Mystik ?

Dieser Teil des Kapitels ist noch in Bearbeitung.

Auf Egon von Vietinghoff zutreffende Formulierungen und Begriffe sind fett geschrieben.

[Kommentare sind in eckigen Klammern und kursiv geschrieben]

Egon von Vietinghoff las immer wieder Schriften z.B. von und über Platon und Meister Eckehardt, die ihm sehr entsprachen und ihn bestärkten.

- Platonismus
- Christentum
- Judentum (Kabbala)
- Islam (Sufismus)
- Hindusimus
- Buddhismus
- Daoismus (Laozi, Laotse)
- Varia
- Psychologie Philosophie

Wikipedia (Stand 1.11.2014)
Auszug aus den Artikeln "Mystik", "Meister Eckhart", "Sufismus", "Plato" und "Platonismus"
 

Akademie des Plato, Römisches Mosaik, Pompeji (1. Hälfte 1. Jh.) Platons Vielseitigkeit seiner Begabungen und die Originalität seiner wegweisenden Leistungen als Denker und Schriftsteller machten ihn zu einer der bekanntesten und einflussreichsten Persönlichkeiten der Geistesgeschichte auf allen Gebieten. Er setzte Maßstäbe in Metaphysik, Erkenntnistheorie, Ethik, Kosmologie, Anthropologie, Staatstheorie, Kunsttheorie und Sprachphilosophie. Er gründete die Platonische Akademie, die älteste institutionelle Philosophenschule Griechenlands, von der aus sich der Platonismus über die antike Welt verbreitete. Sein geistiges Erbe beeinflusste zahlreiche jüdische, christliche und islamische Philosophen.

Platon greift das von Parmenides von Elea entwickelte Konzept eines einzigen Seins hinter den Dingen auf und wendet diesen Gedanken auf zahlreiche philosophische Fragen an. Er verweist darauf, dass Mathematiker ihre axiomatischen Voraussetzungen nicht klären, sondern sie als evident betrachten. Es gehe ihnen in der Geometrie nicht um empirische, sondern um ideale Gegenstände. Dabei wird vorausgesetzt, dass ein nichtempirisches Objekt (etwa das Viereck und seine Diagonale) das Ziel der Bestrebungen ist und nicht dessen in der Natur vorgefundene Abbilder. Von dieser Auffassung des Verhältnisses zwischen Idee und Abbild ausgehend bestimmt Platon z.B. das Schöne an sich, das Gute an sich, das Gerechte an sich oder das Fromme an sich. Jedes Phänomen der physischen Welt hat demnach Anteil an der Idee, deren Abbild es ist. Nur die Idee des Schönen ist unbeeinträchtigt durch unschöne Anteile. Die Idee ist die Ursache dafür, dass etwas so ist, wie es ist. So legt das Schöne, das Gerechte oder das Gleiche fest, dass die Einzeldinge, die als schön, gerecht oder gleich wahrgenommen werden, diese Eigenschaften in bestimmtem Ausmaß aufweisen. Ein Mensch kann daher nur als schön bezeichnet werden, weil und insofern er an der Idee des Schönen teilhat. Die Idee ist zugleich in dem jeweiligen Objekt anwesend.

Nach Platon bezieht sich echtes Wissen nicht auf die stets wandelbaren Objekte der Sinneserfahrung, sondern nur auf unkörperliche, unveränderliche und ewige Gegebenheiten einer rein geistigen, der [alltäglichen, üblichen] Sinneswahrnehmung unzugänglichen Welt, auf die "Ideen", in denen er die Ur- und Vorbilder der sinnlich erfahrbaren Dinge sieht. Der Seele, deren Unsterblichkeit er plausibel machen will, schreibt er Teilhabe an der Ideenwelt und damit einen Zugang zur dort existierenden absoluten Wahrheit zu. Platonische Ideen sind beispielsweise "das Schöne an sich", "das Gerechte an sich", "der Kreis an sich" oder "der Mensch an sich". [vgl. Kants "Ding an sich"]. Nach der Ideenlehre sind die Ideen nicht bloße Vorstellungen, sondern eine objektive metaphysische Realität. Die Ideen, nicht die Objekte der Sinneserfahrung, stellen die eigentliche Wirklichkeit dar. Sie sind vollkommen, absolut und unveränderlich. Als zeitunabhängige Urbilder der einzelnen vergänglichen Sinnesobjekte sind sie die Voraussetzung für deren Existenz. Diese Ideenkonzeption steht somit im Gegensatz zur Auffassung, dass die Einzeldinge die gesamte Wirklichkeit ausmachen.

Die Ideen sind das "reine Seiende"; nur ihnen kommt das Sein im eigentlichen Sinne zu. Alles Sein außerhalb des Ideenbereichs ist nur ein abgeleitetes Sein. Damit erhalten sie eine Wertdimension und werden als Ideale positiv gewertet. In der Idee fällt das, was ist, mit dem, was sein soll, zusammen. Ideen sind überzeitlich, sie entstehen nicht und vergehen nicht und sind keinerlei Wandel unterworfen, sondern immer mit sich selbst identisch. Ihre Ewigkeit ist im Sinne von Überzeitlichkeit zu verstehen, in unbegrenzter Dauer. Die Ideen sind formlos d.h. sie verursachen zwar die räumlichen Gestalten, haben aber selbst keine Form, da sie nicht räumlich sind. Sie sind einfach, rein und unvermischt. Sie sind dasjenige, in dem das, was ist, mit dem, als was es sich zeigt, exakt übereinstimmt. Eine Idee stellt nur sich selbst dar, im Gegensatz zum Sinnesobjekt, das über sich hinausweist auf die Ideenwelt. Während ein Sinnesobjekt als Träger konträrer Merkmale einen inneren Gegensatz enthält (z.B. ist es in einer Hinsicht schön, in einer anderen hässlich), kann eine Idee nichts außer ihrer eigenen Beschaffenheit aufweisen. Ideen sind normativ: sie bewirken, dass alles sinnlich Wahrnehmbare existiert und so ist wie es ist. Das wirkliche Sein der Ideen ist die Ursache des uneigentlichen Seins der veränderlichen Dinge. Die Ideen sind Urbilder, alle veränderlichen Dinge sind deren Abbilder. Die Sinnesobjekte verdanken den Ideen alles, was sie sind und was an ihnen wahrnehmbar ist. Die Ideen hingegen verdanken den Einzeldingen nichts, ihre Existenz ist von derjenigen der Einzeldinge in keiner Weise abhängig. Die Idee als das Allgemeine mit umfassendem Charakter ist für die Sinnesobjekte, in deren Vielheit sie sich abbildet, das Prinzip der Einheit. Aufgrund ihrer Merkmale, die von göttlicher Art sind, sind die Ideen göttliche Wesen und als solche den Göttern übergeordnet. Als Erkenntnisobjekt ist eine Idee Quelle von Wissen.

Da Ideen in höherem Maße wirklich sind als die sinnlich wahrnehmbaren Einzelgegenstände, kommt ihnen ein höherer Rang zu als den Sinnesobjekten. Die Ideen machen das eigentliche Wesen der Eigenschaften aus und verleihen den Dingen deren Form. Die Objekte, die der Mensch wahrnimmt, verdanken ihr Sein dem objektiven Sein der jeweiligen Idee. Platon geht davon aus, dass es nicht nur von Naturdingen Ideen gibt, sondern auch von Dingen wie Tischen, die in der physischen Welt nur als Produkte menschlichen Erfindungsgeistes existieren. Offen bleiben die Fragen, ob von Mängeln, von Unvollkommenem und Schlechtem Ideen anzunehmen sind und wie genau die Beziehung zwischen den Sinnesobjekten und ihren Ideen zu verstehen ist. Die Ideen stellen die eigentliche Wirklichkeit dar, die Objekte der Sinneserfahrung nur eine abgeleitete Wirklichkeit. Nach der Ideenlehre sind alle sinnlich wahrnehmbaren Dinge nur unvollkommene und daher fragwürdige Abbilder. Als solche sind sie von begrenztem Wert. Naturgegenstände, darunter auch die Körper der Lebewesen, sind Abbilder von Ideen. Kunstprodukte, etwa Werke der bildenden Kunst, deren Urheber Naturgegenstände nachahmen, sind Abbilder von Abbildern und daher noch minderwertiger als das, was sie darstellen sollen. [Das entspricht genau Vietinghoffs Meinung über kopierende d.h. naturalistische Bildnisse. Mittels der Methode des transzendierenden "reinen Schauens", das zur "visionären Malerei" führt, stößt er (und stießen andere Maler) jedoch zur metaphysischen Dimension des "Gegenstands als solchem" vor.] Alle Dinge, denen aufgrund von Urteilen, die in Sinneserfahrungen gründen, eine bestimmte Eigenschaft (z.B. "schön") zugeschrieben wird, haben in höherem oder geringerem Maß Anteil an deren an sich gedachtem Prinzip, an einer Idee etwa dem "Schönen an sich". Zur Idee gelangt, wer von den unwesentlichen Besonderheiten des einzelnen Phänomens abstrahiert und seine Aufmerksamkeit auf das Allgemeine richtet, das den Einzeldingen zugrunde liegt und gemeinsam ist.

Platons Höhlengleichnis: die Masse der unphilosophischen Menschen leben wie Gefangene in einer Höhle, die an die Wand starren, auf denen sich die Schatten von Ereignissen außerhalb der Höhle bewegen. Sie halten dies für das eigentliche Leben, sie leben somit in einer Kunst- und Phantasiewelt von Abbildern zweiter Ordnung. Ihre Meinungen sind völlig falsch.

Als Platoniker werden nicht nur Fachphilosophen bezeichnet, sondern auch Dichter, Theologen und Intellektuelle, deren Weltanschauung wesentliche Übereinstimmungen mit Konzepten des Platonismus aufweist. In vielen modernen Kontexten bezieht sich der Begriff "Platonismus" deshalb nicht auf die historische Figur Platon, sondern lediglich auf einen wie auch immer gearteten metaphysischen Realismus von Begriffen. Da diese "realistischen" Positionen ("Universalienrealismus") eine mehr oder weniger entfernte Ähnlichkeit mit Platons Ideenlehre bzw. deren jeweiliger Interpretation aufweisen, bezeichnet man sie als "Platonismus", denn die Ideenlehre ist ein Hauptbestandteil von Platons Philosophie. Es gibt unterschiedlichste Definitionen von "Platonismus"; eine Variante postuliert z.B.: Es gibt abstrakte und unveränderliche Objekte, die auch unabhängig von unserem Denken und nicht in Raum und Zeit existieren, nicht Teil der physischen Welt sind und nicht kausal mit physischen Objekten interagieren.
 

Rupertsberger Codex, Hildegard von Bingen empfängt eine göttliche Inspiration (um 1175) Der Ausdruck Mystik bezeichnet Berichte und Aussagen über die Erfahrung einer göttlichen oder absoluten Wirklichkeit sowie die Bemühungen um eine solche Erfahrung. Im alltäglichen Sprachgebrauch steht das Thema Mystik meist in Beziehung zu religiösen oder spirituellen Erlebnissen, die als solche wissenschaftlich nicht objektivierbar sind. Trotz definitorischer Unklarheiten lassen sich Merkmale feststellen, die zumeist für typisch gehalten werden können. Religionsgeschichtlich versteht man unter Mystik eine Form religiösen Erlebens im Diesseits, das auf 'ein Wirklichkeitsganzes' oder auf eine Gotteswirklichkeit hin ausgerichtet ist. In theistischen Religionen ist die mystische Erfahrung auf eine göttliche Wirklichkeit bezogen. Viele Berichte von mystischer Erfahrung betonen, dass kein Begriff und keine Aussage auch nur annähernd passen. Das Erfahrene ist, auch abhängig von soziokulturellen Bedingungen, höchstens umschreibbar. Bei gleichzeitiger Nichtbenennbarkeit und dem Verlangen, von der Erfahrung dennoch nicht nur zu schweigen, bedient sich Mystik oft auch metaphorischer Stilmittel. [Vietinghoff der Malerei]

Es ist zu unterscheiden zwischen "echter" und "unechter" mystischer Erfahrung. Die eine bezieht sich auf Ereignisse, die durch die Wissenschaften und ihre Gesetze nicht beschrieben werden können (z.B. Erlösung, Erleuchtung, Pfingstwunder, Geisttaufe), die andere bezeichnet Erlebnisse, die nachweislich und ausschließlich eine medizinische Ursache haben (z.B. Drogeneinfluss, Halluzination, enthusiastische, fanatische und ekstatische Emotion). Wird eine "echte" mystische Erfahrung als unerwartetes, spontanes und meist einmaliges Lebensereignis, das von äußerst kurzer Dauer ist (z.B. auch Erleuchtung, Wunder), verstanden, dann können die meisten fachwissenschaftlichen Forschungsansätze ausschließlich Berichte über diesbezügliche Erfahrungen analysieren, weil kein Fall bekannt ist, bei dem die Wissenschaften mit ihren Messgeräten dabei gewesen wäre. Steht ein "echter" Mystiker zur Verfügung, so kann höchstens sein inneres und äußeres Verhalten vor und nach seinem mystischen Erlebnis wissenschaftlich untersucht werden, beispielsweise auch ein sich verändernder Bewusstseinszustand während einer Prophetie [oder das Produkt des mystischen Erlebnisses, wie etwa in Poesie, Musik oder Malerei].

Große Bedeutung für mystische Texte haben biblische Metaphern wie die Reinheit des Herzens in der Seligpreisung der Bergpredigt: "Selig, die ein reines Herz haben, denn sie werden Gott schauen" oder das Einwohnen Gottes im Herzen. Das "Gott schauen" noch zu Lebzeiten kann als das klassische mystische Erlebnis schlechthin angesehen werden. Verschiedene biblische Texte sprechen die Nichtabbildbarkeit und Unnennbarkeit Gottes im Diesseits und die Erkenntnis während einer mystischen Erfahrung im Jenseits an. [in der transzendentalen Welt]

Nach Meister Eckhardt haben die Ideen ihren Ort in der Gottheit. Eckhart nennt sie deutsch "Urbilder", wobei er ausdrücklich auf Platon Bezug nimmt. Sie sind ungeschaffen wie die Gottheit selbst; in ihr existieren sie aber nicht als Einzeldinge, sondern ungeschieden, da die Einheit der Gottheit keine Differenzierung zulässt. Außerdem existieren die Ideen aber auch auf die differenzierte Weise, nach welcher der menschliche Verstand sie erfassen kann, denn sie sind auch aus Gott "geboren" worden. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet sind die Ideen oder Formen Elemente der göttlichen Weisheit. Gott als Weisheit ist die Form aller Formen. Die Ideen verleihen den sinnlich wahrnehmbaren Einzeldingen deren Formen und damit die Existenz; die formlose Materie fasst Eckhart wie die Neuplatoniker als ontologisch nichtseiend auf. Die Hinwendung zu Gott ist mit einem auf die Welt gerichteten Wollen und Begehren unvereinbar. Daher ist die erste Aufgabe des Menschen, der eine Einigung mit Gott erstrebt, sich von allen solchen Bestrebungen zu reinigen. Das ist die Voraussetzung dafür, dass er vergöttlicht wird. Das Ergebnis der Abtrennung von der Welt nennt Eckhart "Abgeschiedenheit". Es kommt darauf an, die Seelenbereiche restlos von "allen Dingen" zu trennen, sodass der Mensch leer wird wie ein aufnahmebereites Gefäß. Dann kann Gott die gesamte Seele ausfüllen. Der Mensch soll Gott in allen Dingen ergreifen. Eckhart sagt: "Manche einfältigen Leute wähnen, sie sollten Gott so sehen, als stünde er dort und sie hier. Dem ist nicht so. Gott und ich, wir sind eins." Zu den "Dingen", von denen der Mensch sich befreien soll, gehört in erster Linie er selbst. Befreiung von sich selbst bedeutet auch: Wer sich für Gott empfänglich machen will, hat alle Hoffnungen, Wünsche und Ziele, die sein eigenes Wohlergehen im Diesseits oder Jenseits bezwecken, aufzugeben. Er vergisst sich selbst und alle Dinge. Damit verzichtet er auf seinen Eigenwillen. Alle Erwartungen und alle damit verknüpften Empfindungen verschwinden gänzlich. In der Seele tritt an die Stelle des Weggeräumten die Leere und geistige Armut. So erlangt man die "Gelassenheit". Dieser anscheinend von Eckhart neu gebildete Begriff bezeichnet die Haltung dessen, der nicht nur die Dinge gelassen hat, sondern gelassen ist. Beim Lassen geht es zuerst um ein innerliches Sein, erst danach um ein äußerliches Handeln. Man kann nicht durch ein Lassen im Handeln zu einem gelassenen Sein gelangen. Asketische Praktiken wie Kasteiungen und Bußübungen sind nicht erforderlich, wichtig ist nur die konsequente Ausrichtung nach innen. Der "Abgeschiedene" will nicht das, was Gott will, sondern er will gar nichts, damit Gott in ihm wollen kann.

Zugewandtheit zu einer göttlichen oder absoluten Gesamtwirklicheit (auch bei Abwesenheit von innerem oder äußerem biologischen Verhalten durch z.B. Fasten, Askese und Zölibat oder den Rückzug in die Einsamkeit als Eremit) hat in vielen Religionen eine lange Tradition. Seltener wird auch beansprucht, eine solche Haltung sei Vorbedingung mystischer Erfahrung. Augustinus meinte, Voraussetzung dafür sei die Gnade Gottes, Martin Luther hingegen stellte das eigene Mühen und Tun in den Vordergrund. Andere Traditionen betonen die Gleichwertigkeit von Kontemplation und aktivem Leben. Auch die christliche Mystik spricht in diesem Zusammenhang von "vita activa" und "vita contemplativa".

In der Spätantike findet der Ausdruck auch im philosophischen Kontext Verwendung, wenn der verborgene Sinn einer Äußerung angesprochen ist. Im Mittelalter lebt die persönliche mystische Gotteserfahrung schon im Diesseits vor allem in den Klöstern. Höchstes Ziel des monastisch-mystischen Strebens bleibt diese Gotteserfahrung in der "unio mystica", der mystischen Vereinigung mit Gott, im weiteren Sinn die Suche nach einem "Bewusstsein der unmittelbaren Gegenwart Gottes". Ähnlich wie hin und wieder "Mystik" selbst bezeichnen davon abgeleitete Wörter wie "Mystizismus" und "mystisch" in der heutigen Umgangssprache bei abwertender Einstellung auch als "unverständlich", "rätselhaft" oder "irrational" empfundene Redeweisen. Meister Eckharts Werke vermögen ein verbreitetes Missverständnis zu klären, was Mystik bedeutet: seine Schriften sind nicht "mysteriös", vielmehr durchdrungen von präziser Logik. Er stellt einen Bezug zur Bergpredigt her, jedoch erlangt er die mystische Schau Gottes in selbem Maße wie über das Herz, über das Denken. [oder wie Vietinghoff und andere "visionär-transzendental arbeitende Maler über die Augen, das Sehen!].

Die evangelisch-lutherische Theologin Dorothee Sölle spricht sich für die Überwindung des vermeintlichen Gegensatzes von kontemplativer Transzendenzerfahrung und politisch-gesellschaftlichem Engagement aus. [oder bei einem Künstler der visioär-transzendentalen Malerei die Überwindung des vermeintlichen Gegensatzes zur sinnlichen Welt]. Mystische Erfahrung bedeute demnach kein bewusstes Abwenden von der Welt, sondern die direkte Transzendenzerfahrung fördere gerade ein demokratisches Glaubensverständnis. Auch Traditionen des Zen betonen, dass Spiritualität und Alltag nicht entkoppelt werden dürfen. Auch Willigis Jäger betont: "Ein spiritueller Weg, der nicht in den Alltag führt, ist ein Irrweg."
 

Anonyme Illustration in _Licht des Geistes_ von Abraham Abulafia (1285), Vatikan-Bibiliothek Die Befreiung des göttlichen Urlichts aus der "Umhüllung der Buchstaben der Schöpfung" ist das zentrale Anliegen der Kabbala, der Mystik des Judentums. Nach kabbalistischer Überlieferung gibt es eine enge Beziehung zwischen der Wiederherstellung des Menschen in seiner ursprünglichen Geistnatur, die sich in der Gottesschau (contemplatio) erfüllt. Die Mystik des tieferen Verstehens der Tora sei keine Sache des eigenen Willens oder der Willkür und Beliebigkeit, sondern Geschenk des jüdischen Messias.

Das mystische "Erleben des Ewigen hier" ist auch das Ziel der beschaulichen Betrachtung der Tora. Wer in das tiefere, mystische Schriftverständnis als "Geheimnis des Glaubens" eingeweiht werden möchte, der muss darum so werben, wie ein liebender Bräutigam um seine geliebte Braut wirbt. Denn die Tora offenbart sich nach einer berühmten Parabel des Buches Zohar "nur dem, der sie liebt. Die Tora weiß, dass jener Mystiker täglich das Tor ihres Hauses umkreist. Was tut sie? Sie enthüllt ihm ihr Antlitz aus ihrem verborgenen Palast und winkt ihm zu und kehrt sofort an ihren Ort zurück und verbirgt sich. Alle, die dort sind, sehen es nicht und wissen es nicht, nur er allein, und sein Inneres, sein Herz und seine Seele gehen nach ihr aus. Und daher auch ist die Tora offenbar und verborgen."
 

Jalāl ad-Dīn Rūmī, Masnawī (1663), Walters Art Museum, Baltimore MD Sufismus ist eine Sammelbezeichnung für Strömungen im Islam mit asketischen Tendenzen und einer spirituellen Orientierung, die oft mit dem Wort Mystik bezeichnet wird. Spätestens mit der Organisation in Orden ist eine Identifikation von Mystik und Sufismus problematisch, da sich ersteres meist auf einen spezifischen Typus von Spiritualität bezieht, letzteres nun aber auch auf Institutionen. Der Sufismus wird manchmal mit dem Gnostizismus in Verbindung gebracht, wobei die Sufis eigentlich unabhängig von einer Religionszugehörigkeit sind und diese Bewegung schon weitaus älter ist als der geschichtliche Islam. Einige Vertreter des Sufismus lehren, dass Gott in jeden Menschen einen göttlichen Funken gelegt hat, der im tiefsten Herzen verborgen ist. Diesen Funken verschleiert die Hinwendung zu allem, was nicht Gott ist – etwa ein Wichtignehmen der materiellen Welt, Achtlosigkeit und Vergesslichkeit.

Im 9. Jh. formulierte der Ägypter Dhū n-Nūn al-Misrī die Theorie der intuitiven Gotteserkenntnis. Durch seine poetischen Gebete führte er einen neuen Stil in die ernste und asketische Frömmigkeit der damaligen Sufis ein. Er vernahm aus allem Geschaffenen den Lobpreis Gottes und beeinflusste so die späteren Naturschilderungen persischer und türkischer Sufis. Ibn Arabi (1165–1240) ist Autor etwa 500 wichtiger sufistischer Schriften, wobei seine Ideen über die Einheit des Seins, schon vor ihm Teil der Sufi-Metaphysik war. Eine der bekanntesten Tariqas ist die der Mevlevis, die auf den Sufipoeten Dschalal ad-Din Rumi zurückgeht. Die Derwische dieses Ordens praktizieren den Dhikr mit religiöser Musik und drehen sich dabei um die eigene Achse. Es gibt Sufi-Orden, die sunnitisch oder schiitisch sind, aber auch solche, die beiden, und andere, die keiner der beiden islamischen Richtungen zuzuordnen sind. Diese stellen einen separaten Bereich des muslimischen Glaubens dar und lehren meist einen "universellen Sufismus".

Das oberste Ziel der Sufis ist, Gott so nahe zu kommen wie möglich und dabei die eigenen Wünsche zurückzulassen. Dabei wird Gott bzw. die Wahrheit als "der Geliebte" erfahren. Der Kern des Sufismus ist demnach die innere Beziehung zwischen dem "Liebenden" (Sufi) und dem "Geliebten" (Gott). Durch die Liebe wird der Sufi zu Gott geführt, wobei der Suchende danach strebt, die Wahrheit schon in diesem Leben zu erfahren und nicht erst auf das Jenseits zu warten. Die mystische Gotteserfahrung ist der Zustand des Einsseins mit Gott, die sogenannte "unio mystica". Ein wichtiger Aspekt der sufistischen Lehre ist außerdem, dass man die Wahrheit erfährt und nicht nur intellektuell erfasst. Viele Sufis, so sie nicht Anhänger einer strengen Scharia sind, glauben, dass in allen Religionen eine grundlegende Wahrheit zu finden sei, und dass die großen Religionen von ihrem Wesen/Geist her dasselbe seien. Manche Sufis gehen deswegen sogar so weit, dass sie den Sufismus nicht innerhalb des Islams angesiedelt sehen, sondern dass die Mystik über der Religion stehe, ja diese sogar bedinge.

Fortgeschrittene Sufis erkennen, dass alle Dinge von Gott kommen, dass sie selbst nur die Verwalter sind und in Wirklichkeit nichts besitzen. Diejenigen, die die Wahrheit erkennen, interessieren sich nicht für Besitz und Äußerlichkeiten im Allgemeinen, Bekanntheit und gesellschaftlichen Stand inbegriffen. Auf dem Niveau der Erkenntnis gibt es "kein Ich und kein Du". Der einzelne erkennt, dass nichts und niemand von Gott getrennt ist. Dies ist das oberste Ziel des Sufismus. Entgegen der Meinung von Sufismus-Kritikern wird ein authentischer Scheich nie die Personenverehrung fördern. Er zieht zwar als Lehrer die Aufmerksamkeit auf sich, aber dann wird er von sich weg, hin zum Ewigen weisen. Es ist deshalb die Aufgabe des Scheichs zu verhindern, dass der Schüler sich dem eigenen Selbst oder der Persönlichkeit des Lehrers hingibt.

Der Begriff Derwisch leitet sich her vom persischen Wort dar ("Tor", "Tür"), ein Sinnbild dafür, dass er von Tür(schwelle) zu Tür(schwelle) wandert. In der sufistischen Symbolik bedeutet dies auch die Schwelle zwischen dem Erkennen der diesseitigen irdischen und der jenseitigen göttlichen Welt. Die Sufis suchen durch tägliche regelmäßige Meditation (Dhikr, das bedeutet "Gedenken", also "Gedenken an Gott", Gott nahe zu kommen oder mit Gott schon im irdischen Leben eins zu werden. Kommen Sufis einem solchen Zustand nahe, geraten sie oft in Trance, wobei dies lediglich ein Nebeneffekt ist und nicht wie manchmal angenommen das Ziel des Dhikr. Der Sufismus bietet also dem Suchenden nicht zuletzt durch den Dhikr eine Möglichkeit, das Göttliche in sich zu finden bzw. wiederzuentdecken.

Die "Vervollkommnung des Dhikr" ist seit je her ein hohes Ziel bei den Sufis gewesen und es wird angestrebt, den Dhikr immerwährend zu wiederholen, sodass er selbst inmitten aller anderen (weltlichen) Aktivitäten weiter im Herzen fortfährt. Dies entspricht einem "ununterbrochenen Bewusstsein der Gegenwart Gottes". Letzteres wird "Dhikr des Herzens" genannt, während die nach außen hörbare Form als "Dhikr der Zunge" bezeichnet wird.

[Egon von Vietinghoff scheint eine Art "Dhikr des Auges" praktiziert zu haben]
 

Antiker Hindu-Tempel in Hampi, Indien (1868) Nach hinduistischen Lehren ist eine Einheitserfahrung mit dem göttlichen Brahman möglich. Beschreibungen bedienen sich Metaphern wie: das Bewusstsein weitet sich ins Unendliche, ist ohne Grenzen, man erfährt sich aufgehoben in einer Wirklichkeit unaussprechlichen Lichts und unaussprechlicher Einheit. Das Einssein fassen verschiedene Vertreter unterschiedlich auf: pantheistisch (Gott ist eins mit dem Kosmos und der Natur, und damit auch im Inneren des Menschen zu finden), panentheistisch (die Seelen behalten einen Eigenstand, wenngleich mit dem Brahman unauflöslich verbunden), und monotheistisch (Einheit in Vielfalt, qualitative Einheit und gleichzeitige individuelle Vielfalt, die der Seele eine ewige mystische Liebesverbindung mit Gott ermöglicht). Nach hinduistischer Lehre ist die alltägliche Wahrnehmung auf vieles gerichtet, die mystische Erfahrung aber eine Einheitserfahrung. Das göttliche Eine ist in allem gegenwärtig. Es zu erfahren, setzt voraus, die Wahrnehmungsart zu ändern. Dazu dienen Konzentrationstechniken des Yoga, Meditation und die Askese als Enthaltung und Verzicht.
 

Buddha-Statue, Chiang Rai (Stadt), Thailand Nichttheistische Traditionen setzen mystische Erfahrungen mit einer letztendlichen Wirklichkeit ohne Bezug auf eine göttliche Person oder Wesenheit aber mit Bezug auf eine außernatürliche Wirklichkeit in Beziehung. Buddha hat das mystisch Erfahrene nicht als göttlich, aber auch nicht als natürlich bezeichnet. Die höchste Wirklichkeit sei kein göttliches Wesen, das mit Verstand und Willen ausgestattet sei und handele, sondern alles überstrahlender Friede und Glückseligkeit. Die höchste Wirklichkeit sei einfach da als souveräne, unantastbare, absolut erfüllende Wirklichkeit, die Menschen prinzipiell wahrnehmen können. Die Natur des Geistes wird als nicht-dual verstanden. Dies ist jedoch in der Regel nicht bewusst und wird durch das Anhaften am Ich verschleiert. Aus dieser grundlegenden Unwissenheit entsteht die Vorstellung eines unabhängig von anderen Phänomenen existierenden Ichs. Damit geht das Auftreten der Geistesgifte Verwirrung/Unwissenheit, Hass, Gier, Neid und Stolz einher, die Ursachen allen Leidens. Ziel ist es, diese Geistesgifte in ursprüngliche Weisheit umzuwandeln, die Ich-Vorstellung aufzulösen und die Aufspaltung der Phänomene in Subjekt und Objekt zu überwinden. Die den fühlenden Wesen innewohnende, bis dahin verschleierte Buddha-Natur wird als immer schon zugrunde liegend erkannt. Praktiken wie Meditation, Gebet, Opferdarbringungen, verschiedene Yogas und spezielle tantrische Techniken sollen dies ermöglichen.
 

Daoistischer Adept, Das Gehemnis der goldenen Blüte Laozi nennt die allem Sein zugrunde liegende Wirklichkeit Dao. "Das Dao ist namenlos verborgen und doch ist es das Dao, das alles erhält und vollendet." Er meint, dass über die höchste Wirklichkeit keine rationale Aussage gemacht werden könne, sie jedoch erfahrbar sei. Wer dem Dao folge und in Übereinstimmung mit seiner Natur handle, 'zu dem kommen die zehntausend Dinge. Sie kommen zu ihm und leiden keinen Schaden, finden Frieden, finden Ruhe, finden Einigkeit.' Die in China entstandene Philosophie und Religion des Daoismus besitzt in ihren verschiedenen Formen eine spezifische Mystik. Schon die ältesten Texte, die sich mit dem Dao, dem Urgrund des Daseins, befassen, beschäftigen sich mit der Idee des Erlangens des Ureinen und der mystischen Innenschau. Der Daoismus hatte einen ausgeprägten Hang zu mystischen Formen von Ritual und Magie, Meditation und Innenschau.
 

Louise Seidler, Joh.Wolfgang von Goethe (Pastell, 1811), Klassik Stiftung Weimar Philipp Otto Runge, Selbstbildnis (1802-1803), Kunsthalle Hamburg Johann Wolfgang von Goethe: "Mystik deutet auf die Geheimnisse der Natur und Vernunft und sucht sie durch Wort und Bild zu lösen."


Philipp Otto Runge:"Die Farbe ist die letzte Kunst und die uns noch immer mystisch ist und bleiben muss, die wir auf eine wunderlich ahnende Weise wieder nur in den Blumen verstehen."
 

C.G. Jung (1911) Karl Jaspers (1883-1969) Der analytische Psychologe Carl Gustav Jung versteht Mystik als religionsunabhängige innere Kontemplation jenseits der Spaltung in verschiedene Konfessionen und Bekenntnisse. Ein Vorbild für ihn ist der Schweizer Mystiker Niklaus von Flüe.

Karl Jaspers schrieb von einer "Auflösung des Subjekt-Objektverhältnisses", d.h. der Aufhebung sowohl der Ausbreitung der gegenständlichen Welt wie der persönlichen Individualität. "In der mystischen Einstellung fehlt alles Rationale: Es gibt keine logische Form, keinen Gegensatz, keinen Widerspruch. Alle Relativitäten des Gegenständlichen, alle Unendlichkeiten und Antinomien bestehen nicht." Als Gegenkonzept zur Mystik entwickelte Jaspers das Konzept des "Umgreifenden", in das der Mensch in einem ständigen Kampf auch klar denkend und sich der offenen Diskussion stellend eindringen könne.
 

Ludwig Wittgenstein (1930) Erich Fromm (1974), Foto Müller-May - Rainer Funk (Lizenz CC BY-SA 3.0 DE) Ludwig Wittgenstein: "Es gibt allerdings Unaussprechliches: Dies zeigt sich, es ist das Mystische." Johannes Heinrichs schlägt erstmals einen semiotischen und strukturellen Begriff der Mystik vor, der keine konfessionellen Voraussetzungen macht. Einige Theoretiker aus dem Kontext der Systemtheorie haben Studien zur Mystik vorgelegt, darunter Niklas Luhmann und Peter Fuchs. Der Psychologe Erich Fromm hat sich auch zu Zusammenhängen von Mystik und Politik geäußert (am Ende seines Werks Haben oder Sein)
 

Meyers Enzyklopädisches Lexikon 1976, Bd.16, S.686: Mystik

In der Religionsgeschichte weitverbreitete Sonderform religiöser Anschauung und religiösen Verhaltens, die als interreligiöses Phänomen im Zusammenhang mit unterschiedlichen Religionen entstand und einen bestimmten Frömmigkeitstypus hervorbrachte, der vor allem durch folgende Merkmale zu kennzeichnen ist:

1. Das Ziel des Verhaltens des Mystikers richtet sich auf eine erfahrbare Verbindung mit der Gottheit bis hin zu einer als "Vereinigung" bzw. Identität mit ihr ("unio mystica") erlebten Nähe;

2. dieses Ziel wird mit Hilfe verschiedener bewusstseinserweiternder Praktiken wie u.a. Kontemplation, Meditation, Askese erstrebt;

3. kennzeichnend für den mystischen Frömmigkeitstypus ist eine antiinstitutionalistische Grundtendenz gegenüber der etablierten Religion, vor allem gegenüber der vom Mystiker häufig als Erstarrung aufgefassten Orthodoxie;
 

4. im Zusammenhang mit diesem der Mystik eigenen kritischen Potential steht häufig die Höherbewertung der individuellen religiösen Vorstellungswelt gegenüber der eher kollektiven oder sozialen Objektivation der Religion;

5. einige Religionen (z.B. die indische und ostasiatische) begünstigen das Auftreten mystischer Strömungen eher als solche Religionen, deren (prophetischer) Rigorismus die individuelle religiöse Vorstellungswelt auf das kollektive (z.B. kulturelle) religiöse Verhalten verweist, so dass in einer groben Unterscheidung der mystische vom prophetischen Religionstyp abgegrenzt wurde.

(Weiter werden erwähnt: indischer mystischer Impersonalismus, Zen-Buddhismus, Laotse, Platon, Plotin, Orphik, Chassidismus, Kabbala, Sufismus, christliche Mystiker).
 

Brockhaus' Konversationslexikon 1895, Bd.12, S.129: Mystik

In der Religion der alten Griechen hießen diejenigen, die in die geheimen Gottesdienste und deren symbolische Bedeutung eingeweiht waren, Mysten, d.h. Geweihte. Daher stammt der Sprachgebrauch, der mit Mystik das aller Religionen eigentümliche Bestreben bezeichnet, mit der Gottheit in unmittelbare und wahrnehmbare Berührung zu gelangen. Dasselbe trägt im Heidentum vorwiegend einen sinnlich-religiösen Charakter. In der alten christlichen Kirche gab die Feier der Sakramente, deren Sinn und Vollzugsart man vor Nichtchristen geheim hielt, Anlass, sie mit den griechischen Mysterien in Analogie zu setzen und deren Bezeichnung auf sie zu übertragen. ...
 

Auf griechischer Seite hatten inzwischen die Neuplatoniker eine philosophisch-religiöse Mystik ausgebildet, die als höchste Stufe der Erkenntnis das unmittelbare geistige Schauen der Gottheit erstreben lehrte, aber auch den Glauben an einen ununterbrochenen Verkehr mit der übersinnlichen Welt, an Orakel, Visionen und an übernatürliche Kundgebungen aller Art begünstigte. ... Die hieraus hervorgehende spekulativ-mystische Art zu theologisieren wurde durch die Schriften des angeblichen Dionysius Areopagita auch ins Christentum verpflanzt und kam durch Erigena auch in die abendländische Theologie. Doch wirkte der eigenartige Grundzug des Christentums dem pantheistischen Zuge dieser Mystik stets entgegen, weshalb sich der in ihr mächtige Geist inniger Andacht und religiöser Kontemplation in der mittelalterlichen Theologie und Kirche zu der Form einer sittlich-religiösen Mystik läuterte. ...
 

Die Grundgedanken dieser Mystik (Meister Eckardt, J. Tauler, J. Ruysbroek, H. Suso, Hermann von Fritzlar) sind das Absterben der Seele für die Welt und für das eigene Selbst, um sich ganz in die göttliche Liebe zu versenken, und die Geburt oder Auferstehung Gottes im Menschen, wie sie vorgebildet ist in der Menschwerdung, dem Tode und der Auferstehung Christi. Diese namentlich im Augustinerorden gepflegte Mystik hat auch auf den Bildungsgang Luthers wesentlich eingewirkt, während Thomas Münzer und die Wiedertäufer in ihrem mystischen Trachten diejenige Form unmittelbarer göttlicher Erleuchtung erstrebten, die die kirchliche Überlieferung als besonderen Vorzug nur wenigen mit neuen Offenbarungen begnadeten Geistern vorzubehalten pflegte. Auf Grund des ihnen zu teil gewordenen "inneren Lichts" verwarfen sie den kirchlichen Gemeinglauben und wollten die ganze bestehende kirchliche und staatliche Ordnung von Grund aus umstürzen. ...
 
     
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Naturalismus ?
Das Wesen der bildenden Kunst (Manuskript)